Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
nicht so richtig einordnen konnte. Seine Sprache war elaboriert und präzise, mit schwachen Resten eines Akzentes, der auf eine Kindheit im Osten der Stadt hinwies. Seine Kleidung war teuer und modisch, aber auch mit Details, die anzudeuten schienen, dass er nicht ganz so auf dem Laufenden war, wie er gern wirken wollte. Wie bei ihrer ersten Begegnung trug er Tennissocken in den braunen Schuhen, und an seinem linken Handgelenk prangte eine Rolex. Inger Johanne kannte nicht viele Menschen, die unnötig viel Geld besaßen. Die wenigen in ihrer Bekanntschaft, die sich so teure Uhren leisten konnten, kauften keine Rolex.
Sie fand ihn sympathisch.
Als sie sich in dem Café Åpent Bakeri in der Åsengate getroffen hatten, hatte er ihr nur kurz die Hand gegeben, dann hatte er sie gefragt, was sie trinken wollte, und ihr mit größter Selbstverständlichkeit einen Caffè Latte und einen Muffin geholt, um den sie gar nicht gebeten hatte. Bevor er sich die Sonnenbrille vor die Augen zog, fragte er, ob das in Ordnung sei, starkes Licht bereite ihm Probleme. Er war Ende zwanzig und gut in Form. Sein Hemd war von Philipp Plein, das sah sie an den Knöpfen, und es saß an genau den richtigen Stellen eng. Vor drei Jahren hatte sie für Yngvar ein Hemd dieser Marke gekauft. Das lag noch immer im Schrank. An ihm hatte es ausgesehen wie eine prall gestopfte Wurstpelle.
Joachim Boyer war eigentlich kein hübscher Mann. Dazu war seine Nase zu groß und das Kinn eine Spur zu klein. Aber sein Lächeln war breit, und seine Manieren überraschten sie. Dass er aufstand, als sie sich gleich darauf entschuldigte, um zur Toilette zu gehen, gehörte in eine ganz andere Zeit. Oder jedenfalls zu einem ganz anderen Alter als seinem.
»Ich muss sie etwas fragen«, sagte er, als sie zurückkam.
»Wie geht man vor, wenn man einen Kranz bestellen will? Wendet man sich dann an das Bestattungsunternehmen?«
»Das ist bestimmt möglich. Aber ich glaube, damit kennt man sich in allen Blumenläden aus.«
»Wäre es falsch von mir, einen Kranz zu bestellen? Und nicht bloß einen kleinen Blumenstrauß? Ich meine, ich gehöre ja nicht zur Familie und ...«
Er schluckte und wandte sich ab.
»Das fände ich absolut richtig«, sagte Inger Johanne.
»Ich war noch nie auf einer Beerdigung. Ich graule mich richtig.«
»Es kann auch schön sein«, sagte sie. »Ein würdiger Abschluss sozusagen.«
»Aber Sander war ein Kind. Da dürfte es so einen Abschluss gar nicht geben.«
Seine Stimme bekam einen scharfen, fast aggressiven Unterton. Seine linke Hand umschloss locker die Kaffeetasse, während er die rechte auf dem Oberschenkel zur Faust ballte.
»Im Moment gibt es zu viele von diesen Beerdigungen«, sagte Inger Johanne. »Alle genauso absurd.«
»Stimmt. Aber die anderen habe ich nicht gekannt. Sander schon.«
Sie saßen draußen, es war noch immer warm, obwohl dahintreibende Wolken in unregelmäßigen Abständen die Sonne verdeckten. In der Hans Nielsen Hauges gate donnerten die Autos vorbei und zwangen sie manchmal zu einer Pause im Gespräch.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie plötzlich und zog Sanders aufgerollte Zeichnung aus der Tasche. »Darüber wollte ich mit dir sprechen.«
Sie schob Teller und Tassen zur Seite und legte das Bild vorsichtig vor Joachim hin. Es wollte nicht flach liegen, und sie stellte die Wassergläser auf die oberen Ecken. Joachim nahm langsam seine Sonnenbrille ab und hängte sie vorn in sein Hemd.
»Oh verdammt«, sagte er leise.
Seine Hand fuhr vorsichtig über die Zeichnung, eine Liebkosung.
»Das ist bei dir, nicht wahr?«, fragte Inger Johanne.
Er nickte.
»Klonken«, sagte er und zeigte darauf.
»Was?«
»Das Schwein. Das grüne Schwein heißt Klonken. Ich habe es vor langer Zeit in Spanien gekauft. Ich weiß nicht, wie Sander auf den Namen gekommen ist.«
»Klonken«, wiederholte Inger Johanne und lächelte.
»Wie ungeheuer detailliert«, sagte Joachim leise und beugte sich noch tiefer über die Zeichnung. »Sieh dir doch das Plakat mit dem Wasser an. Das hatte ich als Junge an der Wand hängen. Sander hat es gefunden, als wir meiner Mutter vor zwei Jahren geholfen haben, den Keller aufzuräumen. Und er wollte es so gern haben. Er hat sich ungeheuer für Wale interessiert, Sander. Wale und Autos und Dinos.«
»Durfte er es denn nicht haben?«
»Doch, sicher.«
Joachim sah für einen Moment verwirrt aus.
»Er wollte es nur nicht mit nach Hause nehmen. Wollte es bei mir haben, über dem
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