Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Alles muss gleich groß sein. So ist das jetzt hierzulande. Sogar im Tod sollen alle gleich sein.«
Sie lachte trocken, ein angestrengtes Keuchen, und hob das Glas.
»Du lallst«, sagte er.
»Ich lalle nicht.«
»Sag: Todesanzeige.«
»Todesanzeige.«
»Da hörst du’s doch.«
»Ich lalle nicht!«, schrie Ellen und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich rede über die Beerdigung unseres Sohnes.«
»Du siehst unmöglich aus. Blick doch mal in den Spiegel, Ellen.«
Ihre Haare waren verfilzt, und der helle Morgenrock hatte Rotweinflecken an der Brust. Um die Lippen zog sich ein trockener bläulicher Rand, und ihre Zähne hatten sich verfärbt. Die Hände fummelten am Etikett herum, es war bereits zur Hälfte abgerissen und in Form von Kügelchen auf dem Tisch verteilt. Eine Zigarette schwelte in einer mit Kippen gefüllten Tasse. Jon ging zum Fenster und öffnete es.
»Wie viel hast du eigentlich getrunken?«
»Weiß nicht«, murmelte sie. »Ich kann nicht schlafen.«
»Kannst du nicht zum Arzt gehen?«
Sie gab keine Antwort. Jon setzte sich, ließ den Stuhl gegen die Wand kippen und legte die Beine auf den Tisch.
»Das kannst du allerdings nicht«, sagte er. »Du bist ja die ganze Zeit blau. Entweder das, oder du schläfst deinen Rausch aus.«
Ellen kippte den Wein hinunter wie Saft und schenkte nach.
»Glaubst du, es kommt jemand?«
Ihre Stimme war dünn und flehend.
»Du hast eine Million vierhundertfünfundfünfzigtausend Freunde. Da werden schon einige auftauchen.«
»Die hatte ich. Als Sander noch lebte. Wo sind sie jetzt? Warum kommt niemand? Oder ruft an? Warum will mir niemand helfen?«
»Die sind verreist«, sagte er resigniert. »Fast alle, die wir kennen, sind im Ausland. Die Anzeige ist noch nicht erschienen. Außerdem haben viele geschrieben und Blumen geschickt. Und dann ist da natürlich noch der ...«
»Wenn du diesen verdammten Terroristen auch nur erwähnst ...«
Ellen sank in sich zusammen. Atmete schwer, mit offenem Mund. Endlich setzte sie sich wieder gerade und bewegte den Zeigefinger über der Kerzenflamme hin und her, immer langsamer, bis sie sich verbrannte und den Finger in den Mund steckte.
»Wann erscheint die Anzeige?«, fragte Jon.
»Mittwoch. Morgen.«
»Du bringst alles durcheinander, Ellen. Morgen ist Dienstag.«
»Du bist das, der alles durcheinanderbringt. Jetzt ist Dienstagmorgen ... Gott, was bin ich voll.«
Im Garten schrie eine Katze. Der Zigarettengestank war dem schweren Duft des Hochsommers gewichen, und Ellen fröstelte, als sie den Morgenrock um sich zusammenzog.
»So kann das nicht weitergehen«, sagte Jon ruhig, nahm die Beine vom Tisch und ließ den Stuhl wieder nach vorn kippen. »Wir brauchen Hilfe. So können wir nicht leben, Ellen. So kannst du nicht leben.«
»Doch. Aber für die Beerdigung werde ich mich zusammennehmen. Hab keine Angst. Ich werde die brave Ehefrau sein. Ich werde meinen toten Sohn betrauern, wie es sich gehört. Und dir keine Schande ...«
Er beugte sich über den Tisch vor und versuchte, ihre Hand zu nehmen. Sie zog die Hand so abrupt zurück, dass sie fast vom Stuhl gefallen wäre.
»Du hast nicht aufgepasst«, schrie sie und erwiderte zum ersten Mal seinen Blick.
»Versuch das ja nicht. Das ist eine Warnung, Ellen. Tu das nicht.«
Er schluckte und erhob sich halbwegs vom Stuhl.
»Was hast du mit uns gemacht!«, heulte sie und fuhr mit der linken Hand wütend durch die Luft.
Das Glas kippte um.
Jon sprang auf und schloss das Fenster.
»Reiß dich zusammen«, fauchte er und riss Küchenpapier aus einem Behälter an der Wand. »Die Nachbarn können dich hören, verdammt noch mal. Halt die Fresse!«
»Darauf scheiß ich doch! Ist mir doch egal, was die Nachbarn ...«
Jon fuhr herum. Er klatschte das Küchenpapier mit aller Kraft auf den Tisch, dass der Rotwein aufspritzte, und packte mit der linken Hand Ellens Haare. Langsam zog er ihren Kopf nach hinten und hob dabei die rechte Faust zum Schlag. Sie versuchte nicht einmal, Widerstand zu leisten.
Endlich war sie verstummt.
»Ich weiß nicht, für wen ich mich mehr schäme«, schluchzte er. »Dich oder mich. Verdammt! Aber ich tippe doch mal auf dich. Du hast aus mir einen ...«
Plötzlich ließ er ihre Haare los. Er ließ die Faust sinken. Seine Schlafanzugärmel bedeckten fast seine Hände, und die Hose war zu weit. Er trat einen unsicheren Schritt zurück, dann noch einen.
Und noch einen.
6
Joachim Boyer war ein junger Mann, den Inger Johanne
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