Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Bett.«
Sein Zeigefinger tippte behutsam auf das Bild.
»Er war ein sauguter Zeichner, aber das ist das Beste, was ich von ihm gesehen habe.«
Dann schwiegen sie lange. Es störte Inger Johanne nicht. Joachim konnte sich an Sanders Zeichnung nicht sattsehen, immer wieder berührte er sie mit den Fingern. Ab und zu murmelte er etwas in sich hinein. Als er am Ende wieder aufschaute, setzte er die Sonnenbrille auf und rollte die Zeichnung vorsichtig zusammen.
»Darf ich das Bild haben?«, fragte er. »Ich würde es gerne einrahmen.«
»Ja«, sagte Inger Johanne. »Unter zwei Bedingungen.«
Er schaute sie fragend über den Brillenrand hinweg an.
Sie rückte ihre Brille gerade. »Erstens brauche ich es vielleicht wieder. Und zweitens ...«
Sie reichte ihm ein Gummi, und er wickelte es zweimal um die Rolle.
»Bitte, erzähl mir von Sander«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Du hast ihn gekannt. Du hast ihn offenbar gern gehabt, und er dich. Was war mit ihm los?«
»Was mit ihm los war?«
Joachim lächelte kurz und hob mit beiden Händen die Kaffeetasse. Er holte Atem und zögerte für eine Sekunde, dann wurde sein Lächeln breit und strahlend.
»Sander war ein witziger Junge. Er war sehr lieb. Manchmal war er der Einzige, mit dem ich zusammen sein wollte. Schon seltsam, er war doch ein Kind und nicht mal mit mir verwandt. Aber, weißt du ...«
Mehr als zwanzig Minuten lang erzählte Joachim Boyer über seinen zwanzig Jahre jüngeren besten Freund. Ab und zu warf Inger Johanne eine Frage ein, aber Joachim zeichnete ein Porträt von Sander, das so anders war als ihr eigenes Bild des Jungen, dass sie schließlich verstummte. Während Ellen darüber geklagt hatte, dass Sander beim Essen so wählerisch sei, erzählte Joachim von einem Jungen, der alles aß, wenn er nur beim Kochen helfen durfte. Ellen und Jon hatten darüber gejammert, dass ihr Sohn seit seiner Geburt nicht richtig geschlafen habe. Joachim dagegen lächelte, als er daran dachte, wie der Junge es immer kaum erwarten konnte, dass die Uhr halb neun zeigte, denn dann durfte er mit Klonken im Doppelbett liegen und eine Viertelstunde lang Donald Duck lesen, ehe das Licht ausgeknipst wurde und er sofort einschlief. Joachim erzählte von einem Jungen, der sich ewig lange konzentrieren konnte, um das zu schaffen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, zum Beispiel von einem Steg in Larkollen, wo Joachims Eltern einen Wohnwagen stehen hatten, eine Schwalbe ins Wasser zu machen. Ellen und Jon hatten über Sanders Unfähigkeit, sich länger als zehn Minuten mit etwas zu beschäftigen, immer verlegen gelächelt, er habe nun einmal ADHS.
»Aber dann war da die Sache mit ...«
Joachim rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sah hinüber zu einem Lastwagen, der versuchte, in die Åsengate einzubiegen, wo zwischen den parkenden Autos kaum Platz war für einen Personenwagen.
»Was denn?«, fragte Inger Johanne.
Er zögerte.
»Diese Zeichnung«, sagte er schließlich und nickte kurz zu der Rolle mit dem blauen Gummi hinüber. »Man braucht doch kein Psychologe zu sein, um auf den Rahmen zu reagieren.«
»Nein.«
»Du bist Psychologin. Ich hab dich gegoogelt.«
»Ja. Unter anderem.«
»Was meinst du dazu?«
»Das ist nicht so wichtig«, sagte Inger Johanne. »Ich möchte lieber hören, was du meinst.«
Eine Wolke glitt vor die Sonne, und Inger Johanne glaubte, winzige Regentropfen zu spüren. Die Sonnenbrille hinderte sie daran, ihm in die Augen zu schauen, aber sie wusste, dass er ihre sah.
»Ich habe nie geglaubt, dass bei Sander zu Hause etwas nicht stimmte«, sagte er. »Bis jetzt.«
»Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?«
Jetzt rutschte er wieder hin und her. Zwei Frauen von vielleicht zwanzig Jahren setzten sich an den Nebentisch, leicht zögernd, während sie zum Himmel hochschauten. Joachim sah sie sich beide genau an, dann wandte er sich wieder Inger Johanne zu und sagte: »Warum wolltest du mich eigentlich treffen?«
»Vor allem, um dir die Zeichnung zu zeigen und zu hören, was du dazu sagst. Und auch, weil ich ein klareres Bild von Sander bekommen möchte.«
»Aber warum? Du bist doch nicht bei der Polizei.«
Inger Johanne beugte sich ein wenig zu ihm vor und legte beide Handflächen auf den Tisch.
»Wann hast du mich gegoogelt?«
»Was?«
Inger Johanne starrte ihr doppeltes Spiegelbild an und wiederholte mit einem kleinen Lächeln: »Du hast eben gesagt, dass du mich gegoogelt hast. Wann hast du das
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