Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
fiel auf, dass seine Fingerknöchel am Lenkrad weiß wurden.
»Doch. Ein bisschen weiß ich, wie ich eben vorgeführt habe. Aber ich weiß bei Weitem nicht genug. Deshalb wäre es nett, wenn du mir helfen könntest.«
Er gab keine Antwort. Sie sagte nichts mehr. Stattdessen musterte sie sein Gesicht, halb von hinten, ohne dass er es sehen konnte. Seine Wangenmuskeln zuckten unter der glatt rasierten Haut, und sie konnte durch das Rauschen des Windes und das gleichmäßige tiefe Dröhnen des Motors hören, dass er mit den Zähnen knirschte. Seine Augen hinter der Sonnenbrille waren schmal, und er nagte nervös an seiner trockenen Unterlippe.
Joachim Boyer hatte Angst, das sah sie.
Als er auf ihre Anweisung hin vor ihrem Gartentor hielt, blieb sie sitzen. Er sagte nichts und machte auch keine Anstalten, ihr die Tür zu öffnen. Sie konnte Jacks heiseres Gebell im Haus hören, er merkte immer, wenn sie kam, auch wenn sie von anderen gefahren wurde.
»Wir haben alle unsere Geheimnisse«, sagte sie leise. »Alle haben wir Fehler gemacht. Das macht die Ermittlungen in der Regel so schwer, Joachim. Wir haben im Grunde alle Angst, in etwas hineingezogen zu werden. Es gibt kaum ein Leben, das Flutlicht verträgt.«
»Ich habe Sander nie angefasst.«
Er sah sie noch immer nicht an. Schaltete den Motor nicht aus. Seine Hände umklammerten noch immer das mit Leder überzogene Lenkrad.
»Das glaube ich ja«, sagte sie. »Aber du hast einen anderen Fehler gemacht, stimmt’s?«
Er antwortete nicht. Jack hörte nicht auf zu bellen.
»Deshalb hast du versucht, mich anzustacheln, statt zur Polizei zu gehen. Du willst Gerechtigkeit für Sander, aber diese Gerechtigkeit soll dich nicht einholen. Was immer du nun getan hast. Wenn es nichts mit Sander zu tun hat, hast du von mir jedenfalls nichts zu befürchten.«
»Sander war ein bisschen zu oft verletzt«, sagte Joachim endlich und atmete langsam die angestaute Luft aus. »Und das ist nur selten bei mir passiert, und er hat die Verletzungen oft bagatellisiert.«
Er ließ das Lenkrad los, zog die Bremse und schaltete den Motor aus.
»Erzähl«, sagte Inger Johanne und löste den Sicherheitsgurt.
Helga Mohr hatte die neuen Räumlichkeiten von Mohr und Westberg noch nicht gesehen. Unter normalen Umständen hätte sie sich über diese Gelegenheit gefreut. Größe, Inneneinrichtung und nicht zuletzt die Lage zeugten alle vom großen beruflichen Erfolg ihres einzigen Sohnes, in diesem neuen Stadtteil einer Gegend, die in ihrer Jugend Tyvholmen geheißen und aus einer wilden Ansammlung riesiger Lagerhäuser bestanden hatte. Sie hätte die dänischen Möbel in Jons Büro bewundert und hätte das seidenweiche Kalbsleder der Sitzgruppe berührt, wo sie mit einer Tasse Tee hingesetzt worden war. Unter anderen Umständen hätte Helga Mohr angesichts der Aussicht und der Technik, die es ermöglichte, mit einem Tastendruck das klare Fensterglas in eine Sonnenbrille zu verwandeln, nur stumm gestaunt.
Jetzt bemerkte sie das alles kaum.
Sie hatte nicht einmal ihren Burberry-Mantel abgelegt, und ihr war heiß. Der Teebeutel hing in der unberührten Tasse. Bald würde der Tee ungenießbar sein. Sie spielte an ihrem Trauring herum, der in der vergangenen Woche spürbar lockerer an ihrem Finger gesessen hatte.
»Kann ich denn nicht mit ihr sprechen?«, fragte sie zum dritten Mal.
»Nein«, wiederholte er resigniert. »Ich will nicht, dass Inger Johanne in diese Angelegenheit hineingezogen wird. Verstehst du das, Mutter? Jetzt hör bitte auf damit.«
Er stand auf und fing an, rastlos im Zimmer hin und her zu laufen.
»Die Beerdigung ist am Freitag. Das müssen wir noch überstehen. Nach dem Freitag ist es vorbei. Wir müssen nach vorn sehen, Mutter. Wenn nur der Freitag erst überstanden ist.«
»Ich will ja gerade nach vorn sehen«, sagte sie, in ungewollt scharfem Ton. »Aber dafür müssen wir sichergehen können, dass die Polizei nicht mehr so in unserem Leben herumstochert, wie dieser unerträgliche Grünschnabel es bereits getan hat. Du weißt doch, was dein Vater immer gesagt hat: Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, um richtig oder falsch, sondern darum, wofür die Polizei sich entscheidet. Nichts ist so gefährlich wie ...«
»Hör auf!«
Jon griff sich an den Kopf und verzog das Gesicht, als ob er plötzlich Schmerzen hätte. Er sah elend aus. Sonst war er doch sehr ansehnlich, fand sie, mit dem jungenhaften schmalen Knochenbau seines Vaters, ohne mager zu wirken, nur
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