Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
gesund und schlank. Jetzt wirkte er verhärmt, genau wie Ellen. Helga Mohr fragte sich, ob die beiden wohl aufgehört hatten zu essen. Am schlimmsten war es aber, in seine Augen zu schauen, wenn ihr das einmal gelang. Die waren immer das Schönste an ihm gewesen, groß und dunkelblau mit langen schwarzen Wimpern. Jetzt waren sie dabei, in seinem Schädel zu verschwinden.
»Man kann nie vorsichtig genug sein«, sagte sie nach einer Pause, in der er sich endlich wieder gesetzt hatte. »Der Polizei zuvorkommen, sozusagen. Inger Johanne hat sehr viel Erfahrung in diesen Dingen, und sicher würde sie auf dich eher hören als auf mich. Ihr seid doch alte Freunde, und sie wird nicht Nein sagen, wenn du sie darum bittest. So ein Fall kann völlig ausufern. Du weißt ja nicht mehr, was mit deinem Vater passiert ist, du warst noch zu klein, aber ich kann dir sagen ...«
»Mutter ... Mutter!«
Jon setzte sich jählings auf, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie.
»Das ist kein Fall, Mutter. Sander ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er wurde obduziert, wir haben ihn wieder, am Freitag ist die Beisetzung. Die Polizei hat sich nicht mehr gemeldet, und sie haben bei Gott anderes zu tun, verdammt noch mal!«
Helga saß bewegungslos da, abgesehen von den Fingern der linken Hand, die unablässig den Trauring an der rechten drehten. Jon wickelte den Teebeutel um einen kleinen Löffel, presste die fast schwarze Flüssigkeit heraus und legte Löffel und Tüte auf einen Glasteller mitten auf dem Tisch. Erst jetzt sah Helga ein großes fleischfarbenes Pflaster auf seiner Hand. Es sah schmutzig aus, und sie musste sich zusammenreißen, um keinen Kommentar abzugeben.
»In diesem Fall ist es das Beste, sich ganz still zu verhalten«, sagte er endlich. »Das Leben ist auch so schon schwer genug. Lass die Finger davon, Mutter.«
Seine Stimme klang so heiser. So elend. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und zu ihm gegangen. Hätte die Hand in seinen Nacken gelegt, den schmalen sehnigen Nacken, den ihre Hände so gut kannten. Sie wollte seinen Kopf an sich ziehen und die unsinnigen Worte flüstern, die ihn als Kind immer beruhigt hatten. Mehr als alles andere wollte sie Jon helfen, ihm versichern, dass alles gut werden würde. Sie wollte ihn beruhigen, mit warmen Händen und Beteuerungen, dass alles in Ordnung kommen würde, so wie sie immer alles für ihn geklärt hatte, bis er sechzehn geworden war und man nicht mehr mit ihm hatte reden können, wie mit den meisten Jungen.
Jon wusste nicht, dass sie es wusste. Das war offensichtlich.
Sie war sich ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte, auf dem Balkon, als ihr am Nachmittag des 22. Juli, gleich nachdem sie das Haus verlassen hatte, eingefallen war, dass ihr Buch noch im Wohnzimmer lag, der Roman, den sie an diesem Abend gern noch zu Ende lesen wollte. Sie stand schon an ihrem Auto, als ihr das einfiel. Sie ging zurück über den Platz vor der Garage, die breite Schiefertreppe hinunter, und hielt es für einfacher, über die Außentreppe auf den Balkon zu gehen, wo sie selbst noch vor zehn Minuten die Wohnzimmertür geöffnet hatte.
Er hatte sie nicht dort draußen stehen sehen.
Er hätte es nicht verbergen können, wenn er sie gesehen hätte. Nicht Jon. Ihre Töchter hatten ihrer Mutter leichter etwas verheimlichen können, das war immer schon so gewesen, aber Jon war so nackt für sie wie bei seiner Geburt. Als Baby hatte er kaum geweint. Helga hatte seine Bedürfnisse erkannt, noch ehe sie ihm selbst bewusst wurden. Jon war ihre größte Freude gewesen. Er war Wilhelms Triumph gewesen und der größte Stolz seiner älteren Schwestern, und für Helga Mohr war der Sohn die Verlängerung dessen, was sie selbst war und empfand.
So war es immer gewesen, und obwohl sie seit einer Ewigkeit nicht mehr der wichtigste Mensch in seinem Leben war, gab es in Helgas Leben nichts Wichtigeres als Jon. Helga war ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte. Nicht einmal, als sie rückwärts getaumelt und mit dem Bein gegen einen Stuhl gestoßen war, hatte er sie bemerkt.
Das hätte sie ihm angesehen.
Als Helga Mohr, damals Axelsen, im Jahr 1950 mit zweiundzwanzig geheiratet hatte, waren ihre Eltern zutiefst skeptisch gewesen. Wilhelm war schon in Ordnung, es fehlte auch nicht an Geld, Tatkraft oder Bildung bei dem sechs Jahre Älteren, der um sie warb. Das Problem war die Politik. Während Helgas Vater 1941 mit der ganzen Familie nach Schweden geflohen und
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