Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Johanne nach fast einer Stunde gefragt hatte, warum er sich gerade an sie wende, war er bei der Wahrheit geblieben. Er hatte sie bereits am 22. Juli im Glads vei erkannt. Zu Hause in seinem Zimmer standen acht Ordner mit Zeitungsartikeln über wichtige Kriminalfälle der vergangenen fünfzehn Jahre. Er hatte schon mit elf zu sammeln angefangen, zuerst auf Papier, dann im Computer.
Deshalb.
Inger Johanne Vik hatte nicht einmal gelacht. Sie hatte ihn nur gebeten, so schnell wie möglich zu kommen.
Jetzt stand er oben auf einer kleinen Betontreppe und drückte auf eine Klingel. Drinnen hörte er schnelle Schritte eine Treppe herunterkommen. Die Tür wurde geöffnet.
»Hallo«, sagte Inger Johanne. »Das ging aber schnell. Kommen Sie rein.«
In normaler Kleidung sah der Polizist nicht ganz so jung aus. Sie passte ihm viel besser als die Uniform, und er hatte sich etwas in die Haare gestrichen und sie zu einer Art Crewcut frisiert. Das stand ihm. Er lächelte vorsichtig und begrüßte sie höflich, dann schob er die Hand in die Tasche und folgte ihr die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer. Er trug einen kleinen Rucksack auf der Schulter.
»Der Hund ist sehr lieb«, sagte sie beruhigend, als Jack auf den Gast zutrottete und schnuppern wollte.
Der junge Mann stand während dieser Musterung stramm, ohne sich vorzubeugen und Jack auch an seinen Händen riechen zu lassen.
»Schlafzimmer«, befahl Inger Johanne, und der Hund lief glücklich hinaus.
»Ich bin wirklich froh, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte er und setzte sich auf das ihm angewiesene Sofa. »Ich bin wirklich ... ehrlich ... richtig verzweifelt. Alle Türen scheinen vor mir zuzufallen, während ich zugleich immer mehr davon überzeugt bin, dass ...«
Er schluckte und griff sich an die Nase, ehe er die Teetasse berührte, ohne sie hochzuheben. Dann griff er sich wieder an die Nase.
»Mein Nachfolger hat alle Hände voll zu tun mit dieser anderen Sache, und wenn die dann irgendwann mal abgeschlossen ist, wird er sicher Urlaub nehmen. Ich weiß, dass es mich nichts mehr angeht, aber ich habe wirklich das Gefühl, ich muss Sander ...«
Endlich führte er die Tasse halb zum Mund, um sie dann so abrupt hinzustellen, dass der Tee überschwappte.
»... Gerechtigkeit verschaffen«, sagte er wütend.
»Das ist ganz richtig von Ihnen«, sagte Inger Johanne ruhig, während sie seine Bewegungen verfolgte. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«
Abermals wanderte seine rechte Hand von seiner Nase zur Tasse und zurück.
»Hätten Sie lieber Wasser?«, fragte sie.
»Ja, bitte. Ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.«
»Sie haben von Sanders Lehrerin erzählt«, sagte sie aufmunternd, während sie ein Glas für ihn holte. »Haldis Grande, hieß sie nicht so? Ich muss Sie loben für Ihre Schlussfolgerung, was Sanders Zeit in der Schule angeht. Dass er sich dort nur selten verletzt hat, meine ich, aber oft mit gebrochenem Arm und blauem Auge erschien. Gut gesehen. Gut gedacht.«
Sie lächelte, als sie ihm das gefüllte Glas reichte. Seine Hand zitterte ein bisschen, und er stellte das Glas ab und berührte wieder seine Nase, ehe er es an den Mund hob und trank.
Inger Johanne verspürte einen Stich von schlechtem Gewissen. Der Junge ist dabei, eine ganze Reihe von Regeln zu brechen, dachte sie, als sie sich setzte. Henrik Holme hatte vermutlich das Gefühl, sie auszunutzen. Tatsache war, dass sie ihn grob ausnutzte.
Als sie am Vormittag nicht mehr weitergewusst und keine Ahnung gehabt hatte, was sie jetzt tun sollte, um die Wahrheit über Sanders Tod herauszufinden, hatte dieser grüne Junge angerufen und ihr auf dem Silbertablett einen Schatz von Informationen serviert. Einige hätte sie sich so nach und nach wohl selbst beschaffen können. Andere, wie das, was er über die Krankenberichte von Volvat erzählte, hätten weit außerhalb ihrer Reichweite gelegen. Er hatte sogar erwähnt, dass möglicherweise wegen eines Insiderhandels gegen Jon Mohr ermittelt werden würde, auch wenn der Verdacht noch sehr vage war. Nicht ein Geheimnis hatte der junge Polizist für sich behalten. Yngvar wäre wütend gewesen. Tove Byfjord würde das auch sein.
Aber die waren beide nicht hier.
»Sie haben auch Elin Foss erwähnt«, sagte sie dann, als er nicht richtig in Gang zu kommen schien. »Das war das Interessanteste, finde ich. Dass sie meint ...«
»Wissen Sie, wie viele Kinder in Norwegen von ihren Eltern misshandelt werden?«, unterbrach er
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