Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Jedenfalls bis morgen, dachte Inger Johanne und beschloss, das Zeitunglesen ausfallen zu lassen.
Eigentlich hätten sie jetzt in den Bergen sein sollen, Yngvar und Inger Johanne, zum ersten Mal seit vielen Jahren allein. Normalerweise legten sie und Isak eine Patience, die damit aufging, dass die Kinder im Sommer immer von irgendeinem Elternteil befreit wären. Dafür mussten sie dann ihre eigenen Ferien mit den Kindern verbringen, doch in diesem Jahr war Kristiane für zwei Wochen in einem Sommerlager gewesen. Die Großmutter war für diese Zeit mit Ragnhild auf die Hütte gefahren, und Inger Johanne und Yngvar war es wie ein kleines Wunder erschienen, dass sie eine Wohnung in Finse mieten konnten, während die Kinder in Frankreich waren. Zwölf Tage Wandern und Zweisamkeit, Inger Johanne hatte sich seit März darauf gefreut. Sie hätten am Vortag fahren sollen, fiel ihr zu ihrer Überraschung ein, als sie die Dusche aufdrehte. Die Ereignisse hatten sie gar nicht mehr an die Reise denken lassen, und natürlich konnten sie jetzt nicht fahren. Ihr aufflackernder Ärger wurde rasch verdrängt von der Scham, die ihre Wangen glühen ließ.
Das Wasser war zu heiß, aber sie genoss den prickelnden Schmerz im Rücken. Die Muskeln entspannten sich nach und nach, und sie lehnte die Stirn an die Fliesen und ließ das Wasser schäumen. Ein freier Tag, dachte sie. Keine Pläne, keine Verpflichtungen. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr ferngesehen. Konnte die vielen Bilder nicht ertragen, die Zahlen, die Berichte der Augenzeugen, die verängstigten Kinder, die Eltern mit den toten Augen. Ellen hatte auch seit Samstag nichts mehr von sich hören lassen. Sanders Tod war nicht Inger Johannes Problem. Sie hatte Urlaub. Nicht einmal um die Kinder brauchte sie sich zu kümmern.
In dem befreienden Gefühl, einmal ganz für sich zu sein, richtete sie sich gerade auf und hielt das Gesicht ins Wasser. Als sie den Hahn schließlich abdrehte, fühlte sie sich sauber, klar und wach.
Sie legte sich die Hand auf den Bauch. Er war ein wenig geschwollen.
Vielleicht war es ein Junge.
Es gibt so viele schöne Jungennamen, dachte sie und fuhr sich mit der Hand über die straffe Haut.
Tarjei, an den Namen hatte sie immer gedacht. Sanft und stark zugleich.
In ihrem Leben war kein Platz für ein weiteres Kind. Sie waren zu alt. Sie hatten die Kinder, die sie brauchten. Sie verdrängte den Gedanken an den schönen Namen und wickelte sich ein Handtuch um den Leib, dann ging sie ins Wohnzimmer.
Auf ihrem Handy war eine SMS eingegangen.
Noch immer hatte sie ihre Kontaktliste nicht aktualisiert, aber diese Nummer war ihr wirklich unbekannt. Stirnrunzelnd las Inger Johanne die Mitteilung zweimal.
Liebe Inger Johanne Vik. Ich wäre sehr froh, wenn ich so bald wie möglich mit Ihnen sprechen könnte. Am liebsten noch heute. Ellen und Jon brauchen Hilfe. Könnten Sie mich wohl anrufen, damit wir uns verabreden können? MfG, Helga Mohr (Jons Mutter, wir sind uns 2009 auf dem Sommerfest begegnet).
Jack war ins Wohnzimmer gekommen und leckte das Wasser auf, das sich um ihre Füße sammelte. Inger Johanne blieb mit dem Telefon in der Hand bewegungslos stehen. Sie wusste nicht, was sie am meisten überraschte. Der Inhalt der Mitteilung oder dass eine Frau von weit über achtzig eine perfekte SMS geschickt hatte.
Sie warf das Telefon aufs Sofa, weil sie nicht in Versuchung geraten wollte, zurückzurufen.
»So schnell?«, fragte Polizeijuristin Tove Byfjord und warf einen Blick auf die Unterlagen, die Henrik Holme eifrig vor ihr auf den Tisch gelegt hatte. »Es dauert sonst immer viel länger bei solchen Berichten.«
»Ja«, antwortete er und stand noch immer, obwohl sie auf den Besuchersessel gezeigt hatte. »Ich habe gestern einen ziemlich energischen Ton angeschlagen. Solche Dinge dürfen nicht zu lange herumliegen.«
Tatsächlich hatte er am Vortag erfahren, dass der Bericht des Rechtsmedizinischen Instituts fertig war und er ihn sich, wenn es eilte, einfach holen konnte. Was er natürlich getan hatte.
»Aha«, sagte Tove Byfjord und sah ihn an. »Und was steht darin?«
»Schädelbruch«, antwortete Henrik Holme triumphierend. »Armbruch. Zwei ausgebrochene Zähne. Ja, das mit den Zähnen war später, also, als ich da war und ...«
»Schädelbruch passt doch absolut zu einem Sturz von einer hohen Leiter«, fiel Tove Byfjord ihm ins Wort. »Vor allem, wenn er auf diese ...«
Sie schnippte mit den Fingern der rechten
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