Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
Aura der Verderbnis umgab ihn. Sie verschmolz mit den Planken, den Segeln und der flüsternden Stimme des Schiffs.
Sie sind eins, dachte Andreas. Fokke und das Schiff sind untrennbar miteinander verbunden.
»Du weißt, wer ich bin«, sagte der Kapitän des Seelenfängers.
Andreas nickte. Fokkes Blick schüchterte ihn ein, verleitete ihn dazu, den Kopf zu senken, aber er kämpfte dagegen an und sah ihm in die Augen.
»Ja«, sagte er. Es ärgerte ihn, wie dünn seine Stimme klang.
»Komm.« Fokke drehte sich um und ging los. »Wir haben viel zu besprechen.« Er wartete Andreas’ Antwort nicht ab, war es wohl gewohnt, dass jeder seiner Befehle befolgt wurde.
Kramp ließ die Peitsche über den Boden kreisen, als Andreas sich nicht sofort bewegte. »Man lässt den Käpt’n nicht warten«, sagte er.
Andreas verstand die Drohung und folgte Fokke bis zu dessen Kajüte. Hintereinander traten sie ein. Der Raum war groß, nahm fast die gesamte Breite des Hecks ein. Es gab zwei Zimmer: einen Vorraum, in dem zwei Öllampen brannten und einige Truhen standen, und das eigentliche Kapitänsquartier, in das Fokke Andreas nun führte. Durch die großen Fenster konnte man die nachtschwarze Landschaft unter dem Seelenfänger erkennen. Karten lagen zusammengerollt auf einem Tisch. Fokke zog seinen schwarzen Wachsmantel aus und warf ihn auf das Bett.
»Aswig!«, rief er.
Der Junge tauchte aus einer Nische in den Schatten auf, in der Andreas ihn nicht bemerkt hatte.
»Ja, Käpt’n«, sagte er ebenso eifrig wie nervös. Sein Blick streifte Andreas nur kurz.
»Hast du mein zweites Paar Stiefel poliert?«
»Ja, Käpt’n.«
Fokke setzte sich auf die Kante seines großen, massiv wirkenden Schreibtischs. Holz knarrte unter seinem Gewicht. »Gut, dann leg dich vor die Tür schlafen. Ich rufe dich dann.«
»Ja, Käpt’n.«
Natürlich, dachte Andreas plötzlich. Das ist der Junge, von dem Sandra und Luca erzählt haben. Er hatte ihnen zuerst geholfen, doch sich dann, nachdem sie einen Fehler begangen hatten, von ihnen distanziert. Zumindest glaubte Andreas, dass sie das gesagt hatten. Irgendetwas hatte ihn abgelenkt, als sie damals davon erzählten, und nun wusste er es nicht mehr genau.
In Gedanken ging er durch, über was er mit Aswig gesprochen hatte. Abgesehen von seinem Wunsch, das Schiff zu verlassen, hatte er nichts erzählt, was der Junge hätte verraten können. Und dass er fliehen wollte, wusste seit seinem Sprung von der Reling auch Kramp und damit natürlich Fokke.
Der Kapitän wischte sich ein Staubkorn von seiner schwarzen Lederhose. »Sag mir deinen Namen.«
Andreas schwieg. Seit Wochen wurden Laura und die anderen Gestrandeten vom Seelenfänger verfolgt. Fokke durfte nicht erfahren, dass Andreas zu ihnen gehörte. Lauras Leben und das der Iolair hingen vielleicht davon ab.
Fokke lachte. »Ist dein Name so bedeutend, dass du ihn mir nicht mitteilen willst, oder so peinlich, dass du dich schämst, ihn mir zu nennen?«
Andreas starrte an ihm vorbei in die dunkle Nacht und presste die Lippen zusammen.
»Also gut, dann kein Name.« Fokke griff hinter sich und nahm eine lange, gebogene Holzpfeife vom Schreibtisch. Aus der Tasche seines schwarzen Samtwamses zog er einen Tabaksbeutel und begann, die Pfeife langsam und methodisch zu stopfen. »Weißt du, was ich wirklich vermisse, seit ich nicht mehr zu den Lebenden gehöre? Den Geschmack von Tabak auf meiner Zunge. Ich kann ihn noch riechen, das verschafft mir Freude, aber es ist eine melancholische Freude, da sie mich stets daran erinnert, was ich verloren habe.« Er steckte den Tabaksbeutel zurück in seine Tasche. »Was ist mit dir? Was vermisst du?«
Andreas antwortete nicht.
Fokke breitete die Arme aus. »Sei nicht albern, ich versuche nur, das Eis zu brechen. Welchen Nutzen könnte ich schon aus dieser Information ziehen?«
Stimmt schon, dachte Andreas. Vielleicht war es besser, erst einmal auf sein Spiel einzugehen. Fokke wusste nicht, wer er war. Mit etwas Glück konnte Andreas Informationen aus ihm herauslocken, ohne dass er es bemerkte.
»Farben«, sagte er. »Meine Welt ist nur noch grau und diffus, seit ich an Bord bin.«
Fokke klopfte mit der Pfeife auf seinen Schreibtisch. »Ja, das liegt am Zwischenreich, in dem deine Seele treibt. Aber mich siehst du klar, oder?«
»Ja.«
Aus tiefschwarzen Augen musterte der Kapitän ihn. »Ich rede nur selten mit den Seelen, die ich einfange. Die meisten sind uninteressant. Sie wissen nicht, wer sie sind,
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