Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
erst, wenn wir ihn herausnehmen.«
Finn sah nachdenklich aus dem Fenster. »Und damit vielleicht die ganze Stadt ins Chaos stürzen. Diese Leute haben uns nichts getan, von Nidis Lage einmal abgesehen. Wir müssen versuchen, den Dolch an uns zu bringen, ohne sie zu ...« Er unterbrach sich.
Laura sah ihn an. »Was ist los?«
Finn drehte sich zu ihr um. »Da draußen ist gerade jemand vorbeigegangen.«
»Und?«
»Weinend.«
Ihre Majestät schlief.
Sie lag inmitten ihrer weichen Kissen und schnarchte mit offenem Mund. Eine Dienerin lag am Fußende des Podests, eine zweite in eine Decke gehüllt vor der Tür des Thronsaals. Sie atmeten regelmäßig und leise.
Nidi schlug die kleine Decke zurück - Ke-Amarihye hatte darauf bestanden, ihn zuzudecken - und stand lautlos auf. Es gab zwei Türen im Thronsaal. Eine führte in den Gang hinaus und weiter zum Eingang der Flöte, eine zweite, kleinere, die in die Spiegelwand hinter dem Podest eingelassen war, zu den Schlafsälen der Dienerinnen. Jede Nacht, das hatte Ke-Amarihye ihm erklärt, durften zwei von ihnen den Raum mit ihr teilen, was als große Ehre galt. Die anderen schliefen in den Sälen.
Normalerweise, auch das hatte sie erklärt, schloss sie die Tür nicht ab, doch an diesem Abend hatte sie eine Ausnahme gemacht.
»Damit dich mir niemand stiehlt«, hatte sie gesagt.
Nidi schlich sich näher an sie heran. Durch den Gang konnte er nicht fliehen, die Dienerin wäre wach geworden und hätte ihn aufgehalten, es blieben also nur die Schlafsäle. Der gläserne Schlüssel, mit dem Ke-Amarihye die Tür abgeschlossen hatte, lag noch in ihrer Hand. Selbst im Schlaf ließ sie ihn nicht los.
Er hockte sich neben ihre große, dicke Hand. Vorsichtig streckte er die Finger aus, fasste den Schlüsselbart an und zog leicht daran.
Nichts. Sie hielt ihn zu fest.
Nidi kratzte sich am Kopf. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe, versuchte, nicht an die Konsequenzen seiner Tat zu denken. Er hatte miterlebt, was geschah, wenn Ihre Majestät ungehalten wurde, doch davon durfte er sich nicht beeinflussen lassen. Er war unfreiwillig in ihren Besitz gelangt. Was geschah, wenn er ihn wieder verließ, war das Problem all derer, die ihn im Stich gelassen hatten.
Laura machte er keinen Vorwurf. Sie hatte Meroyan und dessen Adjutanten angeschrien und seine Freilassung gefordert, bis man sie aus der Flöte warf. Schuld waren die anderen, die zu feige waren, ihre Herrscherin auf ihren Fehler hinzuweisen.
Eigentlich, dachte Nidi, während er mit seiner Schwanzspitze vorsichtig die dicke Hand kitzelte, trifft Ke-Amarihye weniger Schuld als die anderen an ihrem Hof.
Die Herrscherin seufzte im Schlaf. Nidi hielt inne, bis sie wieder zu schnarchen begann, dann strich er mit seinem Greifschwanz über ihre Haut. Ihre Hand zuckte, die Finger öffneten sich, der Schlüssel rutschte zwischen die Kissen. Geistesgegenwärtig griff Nidi danach, bevor sein Weg in die Freiheit in den Tiefen des Podests verschwinden konnte. Das Glas fühlte sich warm in seinen Händen an.
Er drehte sich um und lief zur Tür. Sein Mund war trocken, sein Magen leer. Den ganzen Abend und die halbe Nacht hatte er für Ke-Amarihye und ihre Dienerinnen Geschichten erzählen und seine Kletterkünste demonstrieren müssen.
Nie wieder, dachte er. Mit einem lautlosen Satz landete er auf dem gläsernen Regal neben der Tür. Er hielt sich mit dem Greifschwanz daran fest und streckte sich, bis er den Schlüssel ins Schlüsselloch schieben konnte. Er presste die Lippen aufeinander, als er ihn drehte und leises Knirschen hörte.
Es wurde plötzlich hell.
»Was tust du da?« Ke-Amarihye saß aufrecht in ihren Kissen. Nach dem Abendgebet hatte sie ein schlichtes helles Nachthemd angelegt und ihren haarlosen Kopf weiß gepudert. Sie sah aus wie ein Geist.
Die magische Lampe in ihrer Hand flackerte. Die beiden Dienerinnen gähnten und sprangen auf, als sie bemerkten, dass ihre Herrin wach war.
»Geht!«, sagte Ke-Amarihye scharf. »Wartet im Gang, bis Wir euch rufen.»
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Nidi zu. »Wir warten auf eine Erklärung.«
Er hätte fliehen können in diesem Moment. Es wäre leicht gewesen. Ke-Amarihye war schwerfällig und langsam, und der Schlüssel zur Freiheit steckte bereits im Schloss. Doch er tat es nicht, richtete sich stattdessen auf und sprang vom Regal mit einem Satz auf die Kissen.
Die Dienerinnen schlossen die Türen. Er war allein mit der Herrscherin.
»Ich gehe«, sagte er
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