Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
beschweren sich, dass ihnen kalt ist, heulen, wenn ich von ihnen zehre, und lösen sich irgendwann auf.«
Andreas schluckte. Fokke gab sich jovial, doch das Ungeheuer in ihm brach immer wieder hervor.
»Manche sind stark. Sie finden sich mit ihrem Schicksal ab und versuchen, einen Vorteil daraus zu ziehen. Mit ihnen zu sprechen bereitet mir Vergnügen, zumindest bis zu ihrem unvermeidlichen Niedergang. Aber du ...«
Er zeigte mit dem Stiel der Pfeife auf Andreas. »Spielst du Schach?«
»Äh, nein.«
»Schade. Ich finde so selten jemanden, an dem ich meine Fähigkeiten messen kann.« Er zündete die Pfeife mit einem langen Streichholz an und begann zu paffen. »Aber zurück zu dir. Von all den Seelen, die ich je an Bord geholt habe, bist du die ungewöhnlichste. Du bist nicht verwirrt, du weißt, wer du bist, und die Aura des Schiffs kann dir nichts anhaben. Ich sehe, wie sie von dir abprallt. Warum ist das so? Kannst du mir das verraten?«
Er beugte sich vor und stützte eine Hand auf seinen Oberschenkel. Rauch zog träge durch die Kajüte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Andreas. Es war nicht die ganze Wahrheit, aber es war auch keine Lüge. Das Einzige, was ihn von all den Seelen an Bord unterschied, war seine Krankheit. Vielleicht schützte der Umstand, dass sein Geist vor seinem Tod bereits in eine Art Zwischenreich gelangt war, ihn nun vor der Aura des Schiffes, so, wie er ihn auch vor den Barrieren der Iolair geschützt hatte. Seine Seele hatte sich verkapselt, das war die einzige Erklärung, die er sich vorstellen konnte. Doch das sagte er dem Kapitän nicht. Sollte er doch rätseln. Je länger Andreas für ihn ein Rätsel blieb, desto besser standen die Chancen, dass er ihm nicht die Seele rauben würde.
»Du weißt es nicht.« Fokke klang nicht enttäuscht. Er schien mit der Antwort gerechnet zu haben. »Hm.«
Einige Minuten lang starrte Fokke auf seine glimmende Pfeife, dann stand er so plötzlich auf, dass Andreas zusammenzuckte. Er murmelte etwas und machte eine seltsam verschlungene Handbewegung.
»Es macht mich hungrig, wenn ich so viel reden muss«, sagte er. Etwas schwang in seiner Stimme mit, was Andreas nicht genau einordnen konnte. Er sah zur Seite, als ein grauer Schemen durch die geschlossene Tür glitt. Er erkannte ihn sofort, obwohl die ersten schwarzen Flecken bereits in Huberts Gesicht aufgetaucht waren.
Es geht wohl schneller, je schwächer man ist, dachte er.
»Mir ist so kalt«, wimmerte Hubert.
Fokke hob die Augenbrauen und drehte sich zu Andreas um. »Siehst du, was ich meine? Verwirrung, Geheule, kein interessantes Wort.«
Ansatzlos stieß er seine Hand in Huberts Brust. Der Tote schrie nicht auf, er seufzte nur so schwer und lang, als würde sein letzter Atemzug aus ihm gerissen. Vor Andreas’ Augen verlor er an Substanz. Die schwarzen Flecken stachen stärker hervor, der Rest wurde durchscheinend und verschwamm, sodass Andreas kaum noch seine Gesichtszüge erkennen konnte.
Fokke ließ ihn los. Wie ein Blatt im Wind trieb Hubert durch die geschlossene Tür und verschwand. »Ich verstehe nicht, warum sich das Schiff überhaupt die Mühe gemacht hat, ihn einzufangen. Seine Seele ist alt und schwach. In ein, paar Tagen wird nichts mehr von ihr übrig sein. Lächerlich.«
Der Kapitän drehte sich um. Erschrocken sah Andreas, wie tiefschwarz sein Blick geworden war. Er hatte Angst, in diese Dunkelheit hineingesogen zu werden, wenn er zu lange hinsah. Er wandte den Blick ab.
Fokke setzte sich wieder auf die Kante seines Schreibtischs. Seine aufgesetzte Freundlichkeit war verschwunden, er machte sich nicht mehr die Mühe, das Ungeheuer in ihm zu verbergen.
»Deine Seele ist die stärkste, die ich je erlebt habe, und die seltsamste«, sagte er. »Ich könnte monatelang von dir zehren, sogar jahrelang, und wer weiß, irgendwann würde es dir vielleicht sogar gefallen.«
Er klopfte die Pfeife in einem großen steinernen Aschenbecher aus. »Doch ob ich dir die Gelegenheit geben werde, deine Existenz so lange fortzuführen, hängt von der Antwort auf eine sehr einfache Frage ab.«
Er hob den Blick. Die Schwärze in seinen Augen war undurchdringlich. »Wo ist Laura, Andreas?«
Die magischen Fesseln aus Gold schnitten tief in Andreas’ Handgelenke. Fokke hatte ihn an einem Balken im Vorraum seiner Kajüte festgebunden und war dann verschwunden. Andreas hörte ihn mit Aswig sprechen, kurz danach öffnete sich die Tür.
»Alles, was auf diesem Schiff geschieht, erfahre ich
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