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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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konnte, trat dabei auf etwas, das unter ihrem Fuß knackte und brach. Sie war sich sicher, dass sie längst auf die Barrieren hätte stoßen müssen, die der Wald um das Lager errichtet hatte. Waren sie nicht mehr da? Hatten die Bäume in der Hitze des Streits vergessen, sie aufrechtzuerhalten?
    So sehr beschäftigte sich Laura mit diesen Fragen, dass ihr die Stille erst nach einer Weile auffiel. Die Stimmen der Bäume waren zu einem Säuseln, nicht lauter als der Nachtwind, geworden. Zum ersten Mal, seit Laura den Wald betreten hatte, fühlte sie sich allein.
    Sie drehte sich, ohne Rinde zu berühren. Die Bäume standen weiter auseinander als zuvor. Es gab fast keine Sträucher und nur wenig Unterholz.
    »Was tust du hier?«
    Laura erschrak. Die Stimme klang alt und schwerfällig, so als würde sie nur selten benutzt.
    »Ich habe mich verlaufen.«
    »Verlaufen.« Der Baum seufzte. »Natürlich.«
    »Habe ich das nicht gesagt?«, fragte eine andere, ebenso alte Stimme. »Niemand kommt absichtlich zu uns.«
    »Es wäre schön, wenn es einmal anders wäre.«
    Laura hörte ihnen zu, versuchte, die Unterhaltung zu verstehen. »Wer seid ihr?«, fragte sie, als ihr das nicht gelang.
    »Ich bin Torrok«, sagte die schwerfällige Stimme, »und er heißt Noffur. Die Namen der anderen musst du nicht kennen. Sie haben kein Interesse an dir.«
    »Wir eigentlich auch nicht«, fügte Noffur hinzu. »Außer du möchtest ... Na, du weißt schon.«
    Laura runzelte die Stirn. »Außer ich möchte was?«
    Die Bäume antworteten nicht. Torrok räusperte sich nach einem Moment, als wäre ihm das Thema unangenehm. »Streiten sie da vorne wieder?«
    »Ja, Laubbäume gegen Nadelbäume, wenn ich das richtig sehe.«
    »Wie immer.« Torrok seufzte. Laura hatte den Eindruck, dass er das sehr oft tat.
    »Sie tun mir leid«, sagte der Baum. »Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen, aber mehr als mein Mitgefühl vermag ich nicht zu geben.«
    »Warum vermittelst du nicht zwischen ihnen?«
    »Sie würden nicht auf mich hören, auf keinen von uns. Sie mögen uns nicht besonders.«
    »Und sie reden auch nicht mit uns«, sagte Noffur.
    Laura kniff die Augen zusammen, aber die Dunkelheit war so absolut, dass sie außer Schemen nichts erkennen konnte. »Was genau seid ihr?«, fragte sie.
    Torrok seufzte noch schwerer als zuvor. »Wir sind Trauerweiden.«
    »Die Totengräber des Waldes«, sagte Noffur. »Es liegt in unserer Natur, zu trauern. Sei es um Groddaruk, der nicht der Herrscher ist, der er zu sein glaubt, um die von Neid und Selbstzweifeln zerfressene Bekka oder um den kleinen Birkenschössling, den du eben zertreten hast.«
    Laura spürte einen Stich des schlechten Gewissens.
    »So ist es nun einmal, wir müssen trauern, ob wir wollen oder nicht.«
    »Was ist mit den Wanderern, die in den Wald kommen? Trauert ihr auch um sie?«
    »Immer.«
    Der Stich, den Laura gespürt hatte, wurde zu einem dumpfen, unguten Gefühl. »Also lässt Groddaruk sie nicht wieder gehen?«
    Torroks Seufzen begann an ihren Nerven zu zerren. »Es endet für gewöhnlich anders, doch darüber können wir später sprechen. Du bist willkommen, wenn du den Rest der Nacht zwischen meinen Wurzeln verbringen willst. Der Boden ist weich, und meine Zweige werden dich schützen. Du würdest dich nur verlaufen, wenn wir dich jetzt zurückschickten.«
    Laura zögerte. »Erwartet ihr eine Geschichte für eure Gastfreundschaft?«
    »Nein, wir haben kein Interesse an Unterhaltung. Nichts bereitet uns Freude, weder die Abenteuer anderer noch deren Leid. Wir kennen nur Trauer.«
    Ihr nehmt euren Namen schon ernst, dachte Laura, aber sie nahm das Angebot an. Torroks Stimme führte sie zu seinem Stamm. Der Boden war so weich, wie er behauptet hatte, und hinter den tief herabhängenden Zweigen fühlte sie sich so sicher wie hinter einer geschlossenen Tür.
    Sie schob einen Arm unter ihren Kopf und schloss die Augen. Die anderen würden sich Sorgen machen, aber daran konnte sie nichts ändern. Laura war beinahe eingeschlafen, als die Weiden um sie herum leise zu weinen begannen. Um wen sie trauerten, wagte sie nicht zu fragen.

    Sie fühlte sich ausgeschlafen und gut, als sie im ersten Licht des neuen Tages aufwachte. Die Weiden hatten aufgehört zu weinen, Vögel zwitscherten in den Baumkronen. Torroks Zweige bildeten einen Vorhang zwischen Laura und der Welt. Sie war versucht, ihn nicht zu öffnen und die Probleme, die draußen auf sie warteten, noch ein wenig aufzuschieben, aber dann

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