Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
ihn aus seinen Gedanken. Sie erschien ihm seltsam spezifisch, so als sei ein Hintergedanke damit verbunden. »Wer möchte das wissen?«
»Ich, die Birke links neben dir.«
Der Baum war hoch, schmal und sprach mit einer knarrenden Männerstimme.
»Typisch Birke«, hörte Finn einen anderen Baum hinter sich sagen.
Milt und Laura blieben stehen, nur Nidi ging weiter und beantwortete die Fragen, die ihm gestellt wurden. Es war ihm anzusehen, wie sehr er die Aufmerksamkeit genoss.
Finn sah die Birke an. »Kommt darauf an, wie hungrig wir abends schlafen gehen. Höchstens eine Woche, würde ich schätzen.«
»Hm, hm«, sagte der Baum.
»Warum willst du das wissen?« In Lauras Stimme hörte Finn das gleiche Misstrauen, das auch er empfand.
»Nur so. Kein besonderer Grund.«
»Bist du sicher?«, fragte Milt.
Der Baum antwortete nicht.
Mit gemischten Gefühlen ging Finn weiter, folgte Nidis Stimme und den Fragen der Bäume. Er beantwortete sie auch weiterhin, ebenso wie seine Begleiter, aber der Wald erschien ihm auf einmal düsterer als zuvor. Nach einer Weile blieb er stehen.
»Ich würde euch gern eine Frage stellen!«, rief er in den Wald hinein. »Erlaubt ihr das?«
»Frag, Weichrinde. Wir werden alles beantworten.« Die Stimme - Finn glaubte, dass sie zu einem knorrigen Laubbaum mit Blättern, so groß wie Surfbretter, gehörte - klang neugierig.
»Führt dieser Pfad wirklich aus dem Wald hinaus?«
Stille senkte sich über den Wald. Äste knackten leise, irgendwo weit entfernt sang ein Vogel.
Dann antworteten alle gleichzeitig.
»Natürlich.«
»Selbstverständlich.«
»Keine Sorge.«
»Klar doch.«
»Bestimmt.«
Finn bedankte sich bei ihnen, als das Stimmengewirr nachließ, dann schob er sich an Laura und Milt vorbei. »Ich glaube ihnen nicht«, sagte er leise.
Milt und Laura nickten.
Nidi sah ihn bedauernd an, schien seine Meinung aber zu teilen. »Ich mag die Bäume«, flüsterte er.
»Sie uns auch«, antwortete Finn ebenso leise. »Das ist das Problem.«
Einer der Bäume räusperte sich. »Können wir zu den Fragen zurückkehren? Ihr habt noch längst nicht alles beantwortet, was wir wissen wollen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er mit Fragen über die Welt der Menschen fort. Finn antwortete einsilbiger als zuvor, versuchte, seine Gedanken zu sammeln, während die Fragen wie Gewehrkugeln rundherum einschlugen. Vielleicht bemerkte er deshalb erst, was geschehen war, als sein Fuß gegen aufgeschichtetes Holz stieß.
Er sah nach unten.
»Die Feuerstelle«, stieß Milt neben ihm hervor. »Wir sind im Kreis gelaufen.«
Laura fuhr herum. »Groddaruk!«, rief sie über den Lärm hinweg. »Wir hatten eine Abmachung!«
»Die ich gebrochen habe.« Die Stimme der Tanne hallte durch den Wald. Die anderen Bäume verstummten.
»Die wir alle gebrochen haben«, widersprach Bekka. »Du bist nicht der einzige Baum hier.«
»Manchmal wünschte ich, es wäre so. Deine Impertinenz ist schwerer zu ertragen als nasser Schnee auf den Ästen.«
»Hey!« Finn unterbrach den Streit. »Was soll das? Wieso lasst ihr uns nicht gehen? Wir haben getan, was ihr wolltet.«
»Und das war sehr freundlich von euch«, sagte Groddaruk. »Eure Geschichte hat uns so gut gefallen, dass wir gerne noch eine hören würden. Das werdet ihr uns doch nicht abschlagen wollen, oder?«
Ein Zweig schnellte aus einer Kiefer hervor wie eine Peitsche und riss den Boden neben Finn auf. Dreck spritzte ihm bis ins Gesicht. Er spuckte aus und hob die Fäuste. »Eine Geschichte, hattest du gesagt. Ist dein Wort denn nichts wert?«
»Anscheinend nicht.«
Die anderen Bäume lachten. Groddaruk schüttelte seine Äste.
»Setzt euch«, sagte er. »Und erzählt!«
Das letzte Wort schrie er Finn so laut entgegen, dass Menschen und Schrazel die Hände auf die Ohren pressten. Als es verhallt war, stieg Nidi auf den Baumstamm, der zu seiner Bühne geworden war.
»Unsere Geschichte beginnt in Asgard ...«
Nidi redete, bis die Sonne unterging und seine Stimme versagte. Er erzählte von Thor und Odin, Loki und Alberich, aber nichts beeindruckte Groddaruk so sehr wie der Weltenbaum. Obwohl die anderen Bäume zu murren begannen, forderte er Nidi immer wieder dazu auf, mehr von Yggdrasil zu erzählen.
»Was für ein Baum ist dieser Yggdrasil, der die ganze Welt in sich trägt?«, fragte er schließlich
Bevor Nidi antworten konnte, sagte Finn: »Eine Tanne.«
Hinter ihm stöhnte Bekka laut. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Groddaruk
Weitere Kostenlose Bücher