Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
hinter der Kuppe aufrichtete.
Der Riese musste sich dort versteckt haben, wohl wissend, dass dies der einzige Fluchtweg für seine Gegner war. In einer Hand hielt er einen Felsbrocken, groß wie ein Haus. Er holte damit aus, als wäre er eine Bowlingkugel.
Und wir sind die Kegel, dachte Finn. Er fuhr herum. Der Weg war breit an dieser Stelle, die Berghänge, in deren zerklüfteten Nischen und Spalten sie vielleicht Schutz hätten finden können, zu weit entfernt. Es gab kein Entkommen. Der Felsbrocken würde sie zerquetschen.
Finn sah das Entsetzen in den Gesichtern von Laura und Milt. Sie waren zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen wie er. Der Weg, der sie von der Menschenwelt quer durch Innistìr geführt hatte, endete an diesem Berghang.
»Es tut mir leid«, sagte Nock und schwang seinen Arm nach vorn.
Finn schloss die Augen.
Es knirschte. Das Geräusch war so laut, dass er zusammenzuckte. Es klang, als habe jemand Sand in die Zahnräder einer gewaltigen Maschine geschüttet. Das Poltern des Felsbrockens, das er erwartet hatte, blieb aus. Vorsichtig, zögernd und ein wenig ungläubig öffnete Finn die Augen.
Nock stand reglos an der Kuppe, den Felsbrocken in der Hand. Er war versteinert. Ein einzelner Sonnenstrahl, Vorbote des beginnenden Tages, berührte seinen Kopf.
Der Fluch?, fragte sich Finn. Er war wie benommen. Aber das kann doch nicht sein.
Hinter ihm begannen die drei anderen Riesen zu fluchen.
»Ihr habt uns angelogen!«, schrie Retsch. »Ihr Menschen seid doch alle gleich.«
Nidi hüpfte an Finn vorbei. Das Amulett des Magiers zog er an einer Kette hinter sich durch den Sand. »Kommst du?«
Die Riesen konnten ihnen nicht über die Kuppe folgen. Die Sonnenstrahlen hätten sie ebenso versteinert wie Nock. Finn und die anderen hörten ihre Flüche und Beleidigungen, als sie den Berg auf der anderen Seite hinuntergingen. Erst als die Stimmen verhallten, blieben sie stehen.
»Okay«, sagte Finn. »Ich will wissen, weshalb wir noch leben. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber ich verstehe nicht, wieso Nock von der Sonne versteinert wurde, obwohl wir den Fluch von ihm genommen haben.«
Nidi sprang auf einen Stein. Finn sah ihm an, wie sehr er diesen Moment genoss. »Ich habe eine Kopie des Amuletts gezaubert«, sagte er, »während ihr nach dem Rucksack gesucht habt. Es wollte ja keiner auf mich hören, also musste ich euch vor euch selbst schützen. Im Tal des Windes habe ich so viel Gold gefunden, dass das neue Amulett sich ganz schnell herstellen ließ. Es war zwar viel leichter als das alte, aber das hattet ihr ja nicht angefasst. Noch ein kleiner Zauber, damit man beim Zerbrechen ein Seufzen hörte und ein Licht sah, das war’s auch schon.« Er war sichtlich stolz auf seine Leistung.
»Du hast die Riesen getäuscht und uns auch«, sagte Laura. Sie schien die gleichen Bedenken zu haben wie Finn. So dankbar er darüber war, dass Nidi ihnen allen das Leben gerettet hatte, so bewies seine Tat auch, dass man ihm nicht immer trauen konnte und dass er bereit war, seinen Willen durchzusetzen, auch wenn er seine Freunde damit hinterging.
»Es war notwendig«, sagte Nidi. Er wirkte enttäuscht, so als habe er erwartet, dass die anderen ihn mit Dank und Lob überschütten würden. »Ihr wolltet ja nicht auf mich hören.«
»Und wenn du dich geirrt hättest?«, fragte Milt.
»Wenn es um Riesen geht, irre ich mich nicht.« Nidi sprang von dem Stein und ging weiter. Für ihn war die Sache erledigt.
»Doch«, widersprach Laura. »Du hast dich geirrt. Die Riesen waren nicht bösartig, sie wollten nur ihren Kleinen vor Gefahren schützen und sind dabei zu weit gegangen.«
Nidi drehte den Kopf, blieb aber nicht stehen. »Ihr wärt tot ohne mich«, sagte er ernst.
Finn nickte. »Deshalb sind wir dir auch dankbar. Aber ich möchte dich bitten, so etwas nie wieder zu tun,«
Der Schrazel hob die Schultern und schwieg.
Sie folgten dem Weg, der steil den Berg hinunterführte. Vor ihnen breitete sich ein großes Tal aus, das von schneebedeckten Gebirgen umgeben war. Es wirkte karg und öde. Die Luft, die darüber hing, flimmerte so stark, dass Finn außer dem braunen, staubigen Boden am Fuß des Berges kaum etwas erkennen konnte.
»Wir haben ein Problem«, sagte er, als sein Magen zu knurren begann. Mehr musste er nicht sagen, die anderen wussten auch so, was er meinte. Sie hatten ihre Rucksäcke und Wasserschläuche bei den Riesen zurücklassen müssen. Sie besaßen nur noch, was sie am Körper
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