Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
arbeiteten, winkten ihnen zu. Man hatte sie von Andreas’ Verschwinden unterrichtet und sie gebeten, die Augen offen zu halten, aber Jack verstand, dass eine Siedlung mit mehr als zweitausend Einwohnern, die essen und trinken mussten, nicht alles hinwerfen konnte, um einen einzigen Mann zu suchen.
»Was werdet ihr mit diesem Rimmzahn machen?«, fragte Veda, während sie den Blick nach unten richtete. Sie flogen keine zehn Meter über dem Boden, stiegen nur höher, wenn sie Bäume oder Felsen umgehen mussten.
»Nichts«, sagte Jack. »Solange er sich an die Abmachung hält und schweigt, kann er machen, was er will.«
»Aber er bringt Unfrieden in die Gruppe. Das ist gefährlich.«
»Ich weiß.« Jack betrachtete die Heuballen unter ihm. Wie Schachfiguren standen sie in zwei langen Reihen auf einer Wiese. »Wir können ihn nicht ändern, nur so gut wie möglich kontrollieren.«
»Willst du meine ehrliche Meinung hören?«
Jack ahnte bereits, was sie sagen würde, bevor sie den Satz aussprach.
»Ihr solltet ihn verstoßen oder töten, sonst wird er Unglück über euch bringen.«
»Ich befürchte, dass du recht haben könntest«, sagte Jack, »aber wir werden weder das eine noch das andere tun.«
Nun sah Veda doch auf. Ihrem Blick entnahm Jack, dass sie nicht verstand, weshalb er so reagierte.
»Wir sind nicht wie ihr. Wenn einer von uns, Cedric oder ich zum Beispiel, Rimmzahn verstoßen würden, weil er Mist redet, egal, wie gefährlich dieser Mist ist, wären wir danach die Ausgestoßenen. Niemand würde uns mehr vertrauen, jeder hätte Angst, der Nächste zu sein. Um die Gruppe dann noch anführen zu können, müssten wir zu Diktatoren werden.«
»So wie Bricius, Deochar, Josce und ich?« Eine leichte Ironie schwang in Vedas Stimme mit.
Trotzdem nickte Jack. »In gewisser Weise, ja. Die Iolair werden militärisch geführt. Ihr seid die Kommandeure einer Armee, und jeder, der sich ihr anschließt, selbst die Flüchtlinge, wissen, dass sie sich unterordnen müssen. Bei uns ist das anders. Keiner will angeführt werden, jeder will Anführer sein.«
»Das klingt kompliziert.«
Jack lachte. »Du hast keine Ahnung, wie kompliziert.«
Langsam flogen sie durch den Krater, konzentriert und mit nach unten gerichtetem Blick. Erst als es so dunkel wurde, dass sie außer Schatten nichts mehr erkennen konnten, brachen sie die Suche ab und kehrten in die Siedlung zurück. Sie landeten bei den Hütten der Menschen.
Jack sprang aus dem Sattel, als er Bricius und Cedric sah. »Und?«
»Nichts.« Cedric schüttelte den Kopf. »Einige der Suchtrupps sind bis zum Kraterrand vorgedrungen, bevor es dunkel wurde, aber sie haben keine Spur von Andreas gefunden.«
»Wir haben es auch mit einer Geistsuche versucht«, fügte Bricius hinzu. »Simon hat sich als sehr begabt erwiesen. Er kennt Andreas gut genug, um dessen Geist von denen anderer Menschen unterscheiden zu können, aber leider ohne Erfolg. Für uns lässt das nur einen Schluss zu.«
»Ich weiß.« Jack fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare. »Er ist nicht mehr im Krater. Aber erklärt mir, wie das sein kann. Es gibt doch magische Barrieren rund um den Kraterrand und auch noch den Nebel. Wenn ihr sicher seid, dass ihr damit Alberichs Truppen aufhalten könnt, wie kann ein Mann sie durchbrechen?«
Cedric nickte. »Was glaubst du, über was wir die ganze Zeit nachdenken? Es kann eigentlich nicht sein, aber gleichzeitig ist es die einzige Möglichkeit. Ein Suchtrupp kann einen Menschen vielleicht übersehen, eine Geistsuche hätte uns zwar seinen Standort möglicherweise nicht verraten, aber zumindest seine Anwesenheit. Er ist nicht hier. Wir sind uns hundertprozentig sicher.«
Jack breitete hilflos die Arme aus. »Aber wo ist er dann?«
25
Flucht
ins Nichts
A ndreas rannte. Er wusste weder, wie lange er schon lief, noch wohin er lief, nur eines wusste er: vor wem er floh. Es war die Stimme in seinem Kopf, die ihn antrieb, der Dämon, der manchmal sein Vater war. Ihm versuchte er zu entkommen, mit seinem Körper, der in animalischer Panik durch den Wald stolperte, und mit seinem Geist, der über den Bäumen schwebte und den keuchenden, schmerzenden Organismus leidenschaftslos beobachtete, als sähe er nur einen Fremden.
»Dissoziative Persönlichkeitsstörung nennen wir das«, sagte Dr. Marion Kaufmann, seine erste Psychiaterin.
Andreas war acht Jahre alt. Er saß auf dem Teppich in ihrer Praxis und spielte mit den Legosteinen, die dort in einer
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