Schattennacht
Schule der Abtei.
In gewisser Weise ist das Wort Schule ein Euphemismus. Die Schüler, die sie besuchen, sind anderswo unerwünscht, und die Schule ist auch ihr Zuhause, vielleicht das einzige, das manche von ihnen je haben werden.
Untergebracht ist das Internat in dem früheren Klostergebäude. Man hat es innen umgebaut; äußerlich ist es jedoch immer noch ein recht eindrucksvoller Steinhaufen. Hier wohnen auch die Nonnen, die für den Unterricht und die Betreuung der Schüler zuständig sind.
Hinter der alten Abtei erhoben sich die spitzen Wipfel des Waldes vor dem wolkenbedeckten Himmel. Schwarze Äste schützten unsichtbare Pfade, die weit ins einsame Dunkel führten.
Auf der Spur des Bodachs sprang der Hund die breite Treppe zum Haupteingang der Schule hinauf und verschwand im Innern.
Nur wenige Türen des Klosters werden je verschlossen. Zum Schutz der Schüler sind die der Schule jedoch grundsätzlich zu.
Lediglich der Abt, die Mutter Oberin und ich besitzen einen Generalschlüssel, mit dem man überall Zutritt hat. Kein Gast vor mir hat einen solchen Schlüssel erhalten.
Ich bin nicht stolz darauf, dass man mir so viel Vertrauen schenkt. Es ist eine Bürde. In meiner Tasche fühlt der einfache Schlüssel sich manchmal an wie ein eisernes Schicksal, das von einem tief in der Erde verborgenen Magneten angezogen wird.
Der Schlüssel ermöglicht es mir, rasch Bruder Constantine, den toten Mönch, zu suchen, wenn er sich durch Glockenläuten in einem der Türme oder durch irgendeine andere Art Lärm sonst wo bemerkbar macht.
In Pico Mundo, der Wüstenstadt, in der ich den Großteil meines irdischen Lebens verbracht habe, halten sich die Geister vieler Männer und Frauen auf. Hier jedoch haben wir nur Bruder Constantine, der nicht weniger beunruhigend wirkt als sämtliche
Toten von Pico Mundo zusammen. Er ist nur ein Geist, aber einer zu viel.
Da momentan ein Bodach durch die Gegend schlich, war Bruder Constantine allerdings meine geringste Sorge.
Zitternd steckte ich meinen Schlüssel ins Schloss. Die Türangeln quietschten, während ich dem Hund in die Schule folgte.
Zwei Nachtlichter wehrten sich gegen eine völlige Finsternis in der Empfangshalle. Mit ihren Sitzgruppen aus Sofas und Sesseln sah diese wie eine Hotellobby aus.
Ich hastete an dem unbesetzten Informationstisch vorüber und kam durch eine Pendeltür in einen Flur, der lediglich von einer Notlampe und den rot leuchtenden Lettern AUSGANG über den Türen erhellt wurde.
Hier im Erdgeschoss befanden sich die Klassenzimmer, die Rehabilitationsklinik, die Krankenstation und der gemeinsame Speisesaal. Diejenigen unter den Schwestern, die eine kulinarische Begabung hatten, waren noch nicht damit beschäftigt, das Frühstück zuzubreiten. Überall herrschte Stille, und das würde auch noch einige Stunden so bleiben.
Als ich die Südtreppe erklommen hatte, sah ich, dass Boo auf dem Absatz im ersten Stock auf mich wartete. Er war immer noch in ernster Stimmung. Sein Schwanz wedelte nicht, und er grinste nicht, um mich zu begrüßen.
Zwei lange und zwei kurze Flure, die ein Rechteck bildeten, führten zu den Räumen der Schüler. Fast alle waren in Zweibettzimmern untergebracht.
Dort, wo die Flure im Südosten und Nordwesten zusammenliefen, waren die Schwesternzimmer, die ich beide sehen konnte, als ich von der Treppe in die südwestliche Ecke des Gebäudes trat.
An der Theke des nordwestlichen Schwesternzimmers saß eine Nonne und las. Aus der Entfernung konnte ich sie nicht identifizieren.
Außerdem war ihr Gesicht zur Hälfte von einem Schleier verborgen. Hier lebten keine modernen Nonnen, die sich wie Politessen kleideten. Die Schwestern trugen eine Ordenstracht alten Stils, in der sie gelegentlich so Achtung gebietend aussahen wie Krieger in voller Rüstung.
Das südöstliche Schwesternzimmer war verlassen. Offenbar machte die dort diensthabende Nonne ihre Runde oder kümmerte sich um einen ihrer Schützlinge.
Als Boo nach rechts trottete, folgte ich ihm, ohne mich der lesenden Nonne bemerkbar zu machen. Sobald ich drei Schritte gemacht hatte, war sie ohnehin aus meinem Blickfeld verschwunden.
Viele der Nonnen haben eine Ausbildung als Krankenschwester, aber sie bemühen sich, den ersten Stock so zu gestalten, dass man sich darin eher wie in einem gemütlichen Schlafsaal als wie im Krankenhaus fühlt. Da schon in zwanzig Tagen Weihnachten war, hatte man die Flure mit Girlanden aus künstlichen immergrünen Zweigen geschmückt, die
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