Schattennacht
Granit zu beschädigen, falls ich stürzte und mit dem Schädel darauf aufschlug.
Vor sechzehn Monaten habe ich das verloren, was mir am meisten wert war. Seither liegt meine Welt in Trümmern, aber rücksichtslos verhalte ich mich sonst trotzdem nicht. Ich habe zwar weniger, wofür ich leben kann, als früher, doch mein Leben hat noch immer einen Zweck, und ich bemühe mich, in jedem einzelnen Tag Sinn zu finden.
Ich hinterließ die Treppenstufen in dem Zustand, in dem ich sie vorgefunden hatte, und eilte durch den großen Aufenthaltsraum, wo nur eine Nachtlampe mit perlenverziertem Schirm das Dunkel milderte. Dann stieß ich eine schwere Eichentür mit einem bunten Glasfenster auf und sah, wie mein Atem in der Winternacht eine Wolke bildete.
Der Kreuzgang des Gästehauses umgibt einen Hof mit einem spiegelnden Wasserbecken und einer weißen Marmorstatue des heiligen Bartholomäus. Der ist wahrscheinlich der am wenigsten bekannte unter den zwölf Aposteln.
Ernst steht der Heilige hier auf seinem Sockel, die rechte Hand
auf dem Herzen, den linken Arm ausgestreckt. In der nach oben gewandten Handfläche dieses Arms liegt etwas, das aussieht wie ein Kürbis.
Welche symbolische Bedeutung der Kürbis hat, ist mir völlig schleierhaft.
Angesichts der Jahreszeit war das Wasserbecken leer. Auch der Duft von nassem Kalkstein, der in wärmeren Tagen von ihm aufsteigt, war nicht wahrzunehmen. Stattdessen roch ich eine Spur von Ozon, wie sie nach einem Blitzschlag im Frühlingsregen auftritt. Obwohl ich mich darüber wunderte, ging ich unbeirrt weiter.
Durch den Säulengang erreichte ich die Tür des Empfangszimmers, durchquerte den dunklen Raum und trat durch die Vordertür des Klosters wieder in die Dezembernacht.
Unser weißer Schäferhundmischling Boo stand noch genau so auf dem Fahrweg, wie ich ihn von meinem Fenster im zweiten Stock aus gesehen hatte. Während ich die breite Vordertreppe herunterkam, drehte er mir den Kopf zu, um mich anzublicken. Seine Augen waren klar, blau und ohne jede Spur des gespenstischen Glänzens, das nachts im Blick von Tieren liegt.
Da weder Mond noch Sterne schienen, verschwand der weite Hof großteils im Dunkel. Falls dort irgendwo ein Bodach lauerte, konnte ich ihn nicht sehen.
»Boo, wo ist er hin?«, flüsterte ich.
Der Hund gab keine Antwort. Mein Leben ist zwar seltsam, aber doch nicht so seltsam, dass ich mit Tieren sprechen könnte.
Allerdings trat der Hund vorsichtig vom Asphalt auf den Rasen. Dort ging er nach Osten, vorbei an dem mächtigen Bau der Abtei, die fast so aussah, als wäre sie aus einer einzigen Felsmasse gemeißelt, so eng sind die Fugen zwischen den Steinen.
Kein Windhauch zauste die Nacht, und die Dunkelheit hing mit gefalteten Flügeln da.
Das vom Winter braun gefärbte Gras knirschte unter meinen Fußsohlen. Boo bewegte sich wesentlich verstohlener, als es mir gelang.
Da ich mich beobachtet fühlte, blickte ich zu den Fenstern hoch, sah jedoch niemanden. Kein Licht brannte, bis auf die schwach flackernde Kerze in meinem Zimmer, kein bleiches Gesicht spähte durch eine dunkle Scheibe.
Ich war in Bluejeans und einem T-Shirt aus dem Gästehaus gestürmt. Nun nagte der Dezember an meinen bloßen Armen.
Wir gingen ostwärts an der Kirche entlang, die nicht allein steht, sondern sich in den Gesamtbau der Abtei einfügt.
Drinnen brannte das Ewige Licht, das jedoch nicht hell genug war, um die Farben der bunten Glasscheiben aufflammen zu lassen. Hinter einem Fenster nach dem anderen schien das schwache Funkeln uns zu beobachten wie das mürrische Auge eines Wesens, das in blutrünstiger Stimmung war.
Nachdem er mich zur Nordostecke des Gebäudes geführt hatte, wandte Boo sich nach Süden und trottete an der hinteren Mauer der Kirche entlang. Anschließend kamen wir an dem Flügel der Abtei vorbei, in dessen erstem Stock die Novizen untergebracht waren.
Solange sie noch nicht die Gelübde abgelegt hatten, wohnten die zukünftigen Mönche hier. Von den fünf Novizen, die derzeit ihre Unterweisungen erhielten, vertraute ich vieren.
Plötzlich gab Boo seine vorsichtige Gangart auf. Er rannte nach Osten, weg von dem Gebäude, und ich folgte ihm.
Als der Rasen in eine ungemähte Wiese überging, peitschte hohes Gras meine Knie. Bald würde die Last des ersten Schnees die Halme zu Boden drücken.
Etwa hundert Meter weit fiel der Boden leicht ab, bevor er dort, wo das kniehohe Gras wieder in Rasen überging, eben wurde. Vor uns im Dunkeln erhob sich die
Weitere Kostenlose Bücher