Schattennetz
nicht.« Er hatte im elektronisch gesteuerten Uhrmechanismus ein verdächtiges Klicken vernommen.
Der Mediziner blieb auf der Treppe stehen. »Wieso – was ist los?« Faller war schon ein halbes Dutzend Stufen weiter.
»Sie werden es gleich hören«, kam seine Stimme dumpf herunter.
Mitternacht. Der Glockenschlag.
4-mal der Doppelschlag zur vollen Stunde. Dann 12-mal die tiefe Glocke.
Geisterstunde, musste Faller unweigerlich denken.
4
Auch Torsten Korfus war den ganzen Abend beim ›Hock‹ geblieben. Noch immer saß er gemeinsam mit Ehefrau Liliane in der lauschigen Weinecke, wohin sich die Liebhaber eines guten Tropfens und der volkstümlichen Musik gerettet hatten. Eine provisorische Überdachung schützte hier vor Regen und ein Alleinunterhalter spielte unermüdlich Schlager zum Mitsingen.
Das Ehepaar Korfus saß mitten im dichtesten Gedränge, umgeben von Freunden und Bekannten. Dass nun ausgerechnet das Gespräch auf Simbach kam, war ihnen zwar nicht gerade angenehm, doch hatten sowohl bei ihnen als auch bei den anderen am Tisch die vielen Viertele ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Was da so erzählt wird, ist Quatsch«, erklärte Korfus. Der Alleinunterhalter stimmte das Lied: ›Die Hände zum Himmel – und lasst uns fröhlich sein‹ an, worauf sofort die meisten Arme himmelwärts gereckt wurden. Korfus und sein Gegenüber jedoch drehten ihre Gläser und beugten sich weiter über den Tisch, um besser kommunizieren zu können.
»Was so erzählt wird, Torsten, darauf halt ich sowieso nix«, erwiderte der andere, der deutlich älter, dafür aber ähnlich kräftig gebaut war. »Aber es heißt, ihr hättet euch ziemlich geklopft.«
»Quatsch, sag ich doch. Mensch, Rolf, glaub nicht all das dumme Zeug – alles Geschwätz.« Immer, wenn er sich aufregte, war sein sächsischer Dialekt besonders deutlich zu hören. Obwohl er nun schon seit über 15 Jahren im Schwäbischen lebte, war es ihm bisher nicht gelungen, sich sprachlich anzupassen. »Na ja«, meinte Rolf und kratzte sich verlegen an der Nase, »jedenfalls wär es ganz schön blöd, wenn sich zwei erwachsene Mitteleuropäer klopften.«
»Sag nicht immer klopfen. Das hört sich an, als ob wir uns geprügelt hätten.« Korfus sah zu seiner Frau, die sich aber mit den Damen neben ihr unterhielt. Die Musik war ohnehin so laut, dass bereits der Übernächste am Tisch von den Gesprächen nichts mehr mitbekam.
»Was wars denn dann?«, hakte Rolf grinsend nach. »Ein freundschaftlicher Klaps an die Backe, oder was?«
Korfus spürte, wie sein Blut in den Kopf schoss. Er wollte sich nicht provozieren lassen. Nicht jetzt. »Rolf, ich bitt dich«, presste er hervor, »nicht hier und nicht heute. Und eigentlich überhaupt nicht.«
Rolf hob seine behaarten und kräftigen Arme, als wolle er sogleich in die Defensive gehen. »Reg dich doch nicht künstlich auf, Torsten. Mir ist es doch scheißegal, was ihr zwei da miteinander auszutragen habt. Aber wie man so hört, hat sich sogar die Dekanin in die Sache eingeschaltet.«
»Dekanin! Das geht die aber schon gar nichts an. Gar nichts, verstehst du? Die bläst da was auf – und schon labert jeder in der Stadt drüber. Einschließlich dir.«
Der Mann links von Korfus sah irritiert zu ihnen her.
»Okay, Torsten. Ich find doch nur, dass ihr die Sache bereinigen solltet, verstehst du? Egal, was ihr beide für ein Problem habt – man sollte es nicht in der Öffentlichkeit austragen.«
»So seh ich das auch. Genau so. Ich wär sogar bereit gewesen, die Sache zu bereinigen. Aber der Feigling ist ja nicht gekommen.«
»Das hab ich auch schon gehört. Die Dekanin scheint ziemlich ungehalten zu sein.«
Korfus winkte ab. »Du weißt, ich engagier mich auch in der Kirche. Aber es gibt Dinge, da sollten sich die Theologen raushalten.«
»Das sagst ausgerechnet du?«
»Ja, das sag ich. Denn es gibt Dinge, die können die Damen und Herrn Theologen gar nicht verstehen.«
Der Alleinunterhalter forderte jetzt zum Schunkeln auf. Korfus war es nicht danach. »Ich muss mal«, sagte er zu seiner Frau, die aber so sehr in ihr Gespräch mit den Tischnachbarinnen vertieft war, dass sie es nicht zur Kenntnis nahm. Er stand auf und zwängte sich aus den beengten Sitzverhältnissen der Biertischgarnituren.
»Komm aber wieder«, rief ihm Rolf nach.
»Ich habs vor. Pass auf mein Glas auf.«
Als er sich zwischen den eng stehenden und voll besetzten Bierbänken zum schmalen Durchgang gekämpft hatte, tauchte vor ihm eine mächtige
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