Schattennetz
sein? Viele Gedanken schossen Faller durch den Kopf. Was immer hier geschehen war, es hatte etwas Endgültiges an sich. Hier ließ sich nichts mehr ändern, noch mal überdenken, diskutieren. Diesen Menschen, der da lag, von dem er wusste, dass er Alexander Simbach hieß, den gab es nicht mehr. Nie mehr. Mochte die Erde noch Milliarden von Jahren bestehen – dieser Alexander Simbach war ebenso einmalig und unersetzlich, wie die vielen 100 Milliarden Menschen, die ebenfalls schon auf diesem Planeten gelebt hatten und von denen allenfalls noch ein paar Schädelknochen irgendwo in der Erde vermoderten.
Der Doktor erhob sich. »Könnten Sie die mal halten?« Er reichte Faller die Taschenlampe, um den Oberkörper des Toten mit beiden Händen anheben zu können. Das war nicht einfach in der Enge zwischen dem Metallgestänge und der Wand.
»Soll ich das große Licht anmachen?«, fragte Faller. Wenn er die Deckenbeleuchtung anknipste, brauchte er den Strahl der Taschenlampe nicht auf diese schreckliche Szenerie zu richten und es selbst mit anzusehen. Er wartete keine Antwort ab, sondern tastete mit der linken Hand an dem Pfosten der Treppenverschalung entlang, wo er den Lichtschalter vermutete. Er bekam ihn zu fassen und drückte auf die Wippe. Sogleich flammten Leuchtstoffröhren auf und hüllten den Glockenstuhl in ein grelles Licht. Zwar würde man von draußen durch die Schallöffnungen hindurch einen fahlen Lichtschein erkennen, doch wahrscheinlich fiel dies in einer Nacht wie heute niemandem auf.
Die beiden Männer kniffen die Augen zusammen, um sich an die plötzliche Helle zu gewöhnen. »Danke«, sagte Dr. Lutz, der seinen schwarzen Koffer geöffnet hatte. Faller blieb auch jetzt am Treppenabgang stehen. Er wollte sich den Anblick von Fäulnisblasen und Leichenstarre ersparen. Lutz hingegen besah sich den Toten ganz genau, drehte ihn um und zerschnitt das Hemd, um es ihm ausziehen zu können. Faller staunte, mit welcher Genauigkeit der Doktor vorging, obwohl es sich bei Lutz nur um einen praktischen Arzt handelte, der jetzt eben zufälligerweise Bereitschaftsdienst hatte. Faller erinnerte sich, irgendwo mal gelesen zu haben, dass es die Hausärzte bei der Feststellung der Todesursache nicht so genau nähmen und deshalb manches Verbrechen unentdeckt bleibe.
Überhaupt, so schoss es ihm durch den Kopf, was war jetzt zu tun? Polizei? Leichenbestatter? Er war als Kirchengemeinderat im Moment die einzige Person, die eine Entscheidung treffen musste. Sollte er den Stadtpfarrer verständigen – oder gar die Dekanin? Beide hatte er im Laufe des Abends auf dem Festgelände gesehen. Die Handynummer von Stadtpfarrer Cornelius Kustermann hatte er sogar einprogrammiert. Die Frage war nur, ob dieser das Klingeln hören würde, falls er noch irgendwo dort unten saß.
»Mindestens einen Tag«, hörte er Lutz sagen, der jetzt anfing, seine Utensilien wieder in den Koffer zu packen, während sich mit einem kurzen metallischen Klicken der Viertelstundenschlag ankündigte. Der Arzt zuckte zusammen, hatte sich aber schnell wieder gefangen. Er dozierte weiter: »Mehr als 24 Stunden liegt er hier, vermutlich sogar über 30. Die Hitze, die hier oben geherrscht hat, hat den Verwesungsprozess schneller in Gang gesetzt.«
»Und woran, ich meine, lässt sich feststellen, wie er gestorben ist?« Faller riskierte noch einen Blick auf den leblosen Körper, dessen Oberkörper der Arzt inzwischen wieder mit dem aufgeschnittenen Hemd zugedeckt hatte.
»Herzversagen. Plötzliches Herzversagen«, antwortete Lutz selbstsicher. »Hitze, Treppensteigen – ja, und außerdem schätz ich ihn auf fast 50. Ein gefährliches Alter.« Während er seine Gummihandschuhe abstreifte, sah er Faller ins Gesicht, als wolle er damit andeuten, dass auch er sich in Acht nehmen müsse. »Stress, Alkohol, womöglich Rauchen – und dann keine Bewegung, kein Sport …« Lutz klappte seinen Arztkoffer zu und lehnte sich an eine Metallverstrebung. »Tja, und schon ist man weg.«
Faller nickte und überlegte, welche Sportarten dieser junge schlanke Arzt wohl betrieb. Reiten? Klettern? Zumindest würde er täglich vermutlich mehrere Kilometer joggen. Zum Golfen war er jedenfalls noch viel zu jung.
»Wer verständigt die Angehörigen?«, fragte Lutz sachlich. »Gibts eine Ehefrau?«
»Ja«, antwortete Faller nachdenklich. Man musste sie holen, klar. Es würde doch noch ein Aufsehen geben. Tod beim ›Hock‹.
»Ich werd den Totenschein ausstellen, dann kann seine
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