Schattennetz
Gestalt auf. »He, jetzt geht man noch nicht heim«, dröhnte ihm eine Stimme entgegen. Es war Peter Leichtle, der Kommunalpolitiker, der bei jeder Gemeinderatswahl stets die meisten Stimmen einheimste. Sein Leibesumfang war beträchtlich. Leichtle streckte ihm seine feste fleischige Hand zur Begrüßung entgegen. »Junge«, sagte der Mann, der bis in die höchsten Ebenen der Politik Duzfreunde hatte, »ein schmächtiges Bürschchen wie du hat halt keine Kondition.« Der Mann kokettierte liebend gern mit seiner eigenen Leibesfülle und war mit seiner direkten Art weithin bekannt und geschätzt. Er konnte sich geschickt auf dem schmalen Grat zwischen deftigen Sprüchen und seriösem Small Talk bewegen. Er fühlte sich in rustikaler Umgebung so wohl wie auf dem Parkett der Landes- und Bundespolitik. Und in seinem hölzernen Gartenhaus, das er sich abseits seines Wohnhauses hatte erstellen lassen, waren im Kreise erlauchter Freunde bei einem guten Tropfen Rotwein angeblich schon viele wichtige Entscheidungen gefällt worden. Leichtles Ideen und Vorschläge waren gefragt, ebenso sein bürgerschaftliches Engagement. Dass er Zeit dafür hatte, verdankte er seiner Ehefrau und seinem Sohn, die beide das Bestattungsunternehmen führten, wenn er seinen vielfältigen Aufgaben nachkam. Er hatte natürlich längst von dem gescheiterten Schlichtungsgespräch der Dekanin gehört.
»Haben ’se dich gestern noch mal laufen lassen?«
»Gerade noch, ja«, stammelte Korfus sächselnd. Ihm war es sichtlich unangenehm, hier inmitten der Menschenmenge darauf angesprochen zu werden.
»Ich sag in solchen Fällen immer: Zusammensitzen und schwätzen. Mensch«, Leichtle schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Mensch, trinkt ein paar Viertel Wein und die Sache ist vom Tisch.«
»Manches kann man nicht so einfach vergessen.«
»Ich weiß zwar nicht, was da gelaufen ist – interessiert mich auch nicht …« Leichtle sagte dies, obwohl es ihn insgeheim natürlich brennend interessiert hätte, worum es überhaupt ging. »Aber wenn die Dekanin nicht weiterkommt, dann lad ich euch mal ein – und ihr werdet sehn, dass wir das geradebiegen.«
Über Korfus’ Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. Der Alleinunterhalter stimmte ein neues Lied der ›Klostertaler‹ an.
»Vielleicht komm ich auf das Angebot zurück.«
»Macht euch doch das Leben nicht so schwer. Wir sollten das Leben genießen, verstehst du? Irgendwann komm ich daher und pack euch alle in die Kiste. Dann wars das.« Was wie eine Drohung klang, ging in ein breites Grinsen über, mit dem Leichtle selbst die deftigsten Sprüche ins Gegenteil verkehren konnte. Er klopfte ihm auf die Schultern und machte den Weg frei.
Faller und Stumper blieben an der Treppe stehen, während sich Dr. Lutz die Taschenlampe geben ließ und sich zu dem Mann hinunterbeugte, der zwischen der Metallkonstruktion des Glockenstuhls und der Wand am Boden lag – die Schultern und den Kopf seitlich zu den Glocken gedreht. Er trug eine olivfarbene Outdoorhose und ein kariertes kurzärmliges Hemd. Er wirkte gepflegt. Rein äußerlich, so dachte Faller, deutete nichts darauf hin, dass es einen Kampf gegeben hatte. Einen Kampf? Wieso kam er überhaupt auf eine solche Idee? Er erschrak über sich selbst. Er versuchte, den Gedanken sofort zu verdrängen. Vielleicht war es dieser schreckliche Geruch, der ihm den klaren Verstand raubte. Dieser Gestank, der ihn an eine Mülltonne erinnerte, in der Fleischreste viel zu lange der Sonne ausgesetzt waren. Ja, genau so roch es. Entsetzlich. Wo hielt sich überhaupt Stumper auf, der gerade noch hinter ihm gewesen war? Faller drehte sich um, hörte dann aber aus dem finstren Treppenabgang, wie sich jemand übergeben musste. Stumper hatte offenbar einen schwachen Magen. Doch das war ihm nicht zu verdenken. Noch immer drang Musik von der Showbühne herauf.
Faller blieb standhaft und versuchte beim Atmen nicht daran zu denken, wo dieser ekelhafte Gestank herrührte. Er beobachtete den Doktor, der sich Handschuhe übergestülpt hatte, in der einen Hand die Taschenlampe hielt und mit der anderen das Hemd des Toten aufknüpfte. So wie es Faller aus seiner Perspektive sehen konnte, hatten sich am Hals und auf der Brust kleine Bläschen gebildet. Und die Lippen kamen ihm seltsam dunkel vor. Nein, er wollte nicht noch mehr davon sehen. Am liebsten wäre er auch gegangen. Doch da lag ein Mensch, tot. Das Leben war entwichen. Einfach weg, fort. Die Seele – wo mochte sie jetzt
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