Schattennetz
50 Meter zu Fuß bis zum Verwaltungsgebäude gegangen. Es gab mehrere Klingelknöpfe, die allesamt keinen sehr vertrauensvollen Eindruck machten. Nur an einigen waren Namensschilder angebracht. Häberle entdeckte ›Czarnitz‹ und klingelte. Er musste noch zweimal auf den Knopf drücken, bis sich hinter der zersprungenen Milchglasscheibe der Tür ein Schatten näherte. Als geöffnet wurde, stand vor Häberle ein etwa 17-jähriges Mädchen, das ihn sogleich mit großen blauen Augen anstrahlte. »Ja, bitte?«, hauchte die junge Frau und verbreitete den Duft eines Parfüms, das herb und aufregend roch. Sie hatte schwarze, schulterlange Haare und trug ein eng anliegendes, ärmelloses Oberteil und einen knapp knielangen Rock. Häberle lächelte charmant zurück, stellte sich vor und fragte, ob Frau Czarnitz zu sprechen sei.
»Frau Czarnitz ist da, aber sie möchte eigentlich niemanden sprechen.« Das Lächeln war aus dem Gesicht des Mädchens verschwunden.
»Das kann ich mir durchaus vorstellen«, erklärte Häberle. »Aber es ist auch in ihrem Interesse, wenn ich mit ihr kurz reden kann.«
Das Mädchen wich zur Seite und ließ Häberle in den dunklen Flur treten, in dem die Luft kühl war und modrig roch. Rechts führte eine Treppe hoch, über die er der Frau in die erste Etage folgte. Oben wandte sie sich zu ihm um: »Ich sag Frau Czarnitz Bescheid.« Dann verschwand sie hinter einer der Türen, die von dem schmucklosen Gang abzweigten. Häberle wunderte sich, dass ein Immobilienmakler keinen Wert auf repräsentativere Räume legte. Andererseits, so überlegte er, handelte Czarnitz mit alten Industrieflächen und nicht mit Villen am Lago Maggiore. So gesehen mochte das längst sanierungsbedürftige Ambiente durchaus passen.
Statt des Mädchens tauchte jetzt eine Frau von Ende 40 auf. Ihr Gesicht erschien in dem diffusen Licht fahl und ernst. Häberle sprach ihr sein Beileid aus und bat um Verständnis, dass er so hereinplatze. Seine Kollegen hätten zwar bereits mit ihr gesprochen, fuhr Häberle fort, doch nun wolle er sich selbst von den Betroffenen die ganzen Zusammenhänge erklären lassen.
Sie zeigte Verständnis und führte den Kriminalisten in einen helleren Raum, der jedoch ebenso den Charme der 50er-Jahre ausstrahlte, wie alles andere in diesem Gebäude. Auch hier schmucklose weiße Wände, vor denen eine völlig abgewetzte braune Couch und zwei ebenso heruntergekommene Sessel um einen niedrigen Holztisch standen. Das einzige Fenster zeigte zur Rückseite zur einstigen Fabrikationshalle, in der jetzt viele kleine Betriebe untergebracht waren – darunter eine Gussputzerei, über deren Lärm regelmäßig die Anwohner klagten, wie Häberle schon öfters der Zeitung entnommen hatte.
Frau Czarnitz, deren Hosenanzug ihr das Outfit einer Chefin verlieh, schien nicht die Kraft zu haben, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen. Häberle sah ihr dies an und wollte deshalb ohne lange Vorrede zum Thema kommen. Er erklärte, dass er und seine Kollegen noch immer keine Zusammenhänge zwischen Simbach und ihrem Mann erkennen könnten. »Wenn man einerseits den Ansatzpunkt im kirchlichen Bereich sucht, dann fällt es schwer, die Verbindung zu Ihrem Mann zu finden«, schilderte Häberle den Stand der Ermittlungen und sah in ein von Sorgen gezeichnetes Gesicht.
»Mir ist sein Tod ebenso unverständlich wie der Ort, an dem es geschehen ist. Rolf in der Kirche. Das ist absurd.«
»Wir werden den oder die Schuldigen finden«, versprach Häberle. »Dazu brauchen wir aber Ihre Hilfe.«
Sie nickte und lehnte sich zurück.
»Ihr Mann stammt aus Ostdeutschland«, griff der Chefermittler den Faden auf. »Herr Simbach und Herr Korfus ebenfalls, mit dem es offenbar Differenzen gab. Inwiefern hatte auch Ihr Mann Kontakte zu den beiden?«
»Das hat sich erst hier in Geislingen ergeben. Er ist nach der Wende eher zufällig hier gelandet. Er ist mit Freunden über Prag gekommen – die Sache in der Botschaft damals, Sie erinnern sich sicher. Damals, als Außenminister Genscher die Nachricht überbracht hat, dass sie ausreisen dürften. Da war Rolf dabei. Er ist dann nach Göppingen gekommen, wo er mit vielen 100 anderen in einer Sporthalle im Berufsschulzentrum untergebracht wurde. Wie das damals halt so war.«
Häberle konnte sich lebhaft entsinnen. Ihm schien es, als sei es voriges Jahr gewesen. Doch es war 1989.
»Rolf war damals 27 und Polier auf dem Bau gewesen. Einen Job zu finden, war hier natürlich illusorisch.
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