Schattenpferd
Pferdepfleger jede Nacht in der Box eines psychotischen Hengstes schlief, weil ihnen das Pferd wichtiger war als der Mensch. Ich habe Trainer gekannt, die fünf Pferdepfleger innerhalb einer Woche gefeuert haben.
Erin Seabright war, so wie es klang, eigensinnig und streitlustig, vielleicht mit einem Auge für Jungs. Sie war achtzehn und schmeckte zum ersten Mal die Unabhängigkeit … Und warum ich überhaupt darüber nachdachte, war mir unerklärlich. Gewohnheit, vielleicht. Einmal Polizistin … Aber ich war schon seit zwei Jahren keine Polizistin mehr und würde es nie wieder sein.
»Hört sich für mich so an, als hätte Erin ihr eigenes Leben. Vielleicht hat sie einfach keine Zeit mehr für ihre kleine Schwester.«
Molly Seabrights Miene verdunkelte sich. »Ich hab doch schon gesagt, dass Erin nicht so ist. Sie würde nicht einfach abhauen.«
»Sie ist von zu Hause abgehauen.«
»Aber sie hat mich nicht verlassen. Das würde sie nie tun.«
Jetzt klang sie wirklich wie ein Kind statt wie eine neunundvierzigjährige Steuerberaterin. Ein unsicheres, verängstigtes kleines Mädchen. Das mich bat, ihr zu helfen.
»Menschen ändern sich. Menschen werden erwachsen«, sagte ich barsch und nahm das Zaumzeug vom Haken. »Vielleicht bist du jetzt dran.«
Das traf ins Schwarze. Tränen traten ihr hinter der Harry-Potter-Brille in die Augen. Ich ließ es nicht zu, Schuldgefühle oder Mitleid zu empfinden. Ich wollte keinen Job und keine Klientin. Ich wollte nicht, dass Menschen mit Erwartungen in mein Leben traten.
»Ich dachte, Sie wären anders«, sagte sie.
»Wie kommst du darauf?«
Sie schaute zu der Zeitschrift, die auf dem Regal mit den Putzsachen lag. D’Artagnon und ich glitten über das Papier wie ein Traum. Aber sie sagte nichts. Wenn sie eine Erklärung für ihren Glauben hatte, wollte sie mir die wohl lieber nicht mitteilen.
»Ich bin niemandes Heldin, Molly. Tut mir Leid, falls du den Eindruck bekommen hast. Wenn sich deine Eltern keine Sorgen um deine Schwester machen und die Polizei auch nicht, dann bin ich überzeugt, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Du brauchst mich nicht, und glaub mir, du würdest nicht froh, wenn du mich bräuchtest.«
Sie sah mich nicht an. Einen Augenblick blieb sie noch stehen, riss sich zusammen, zog dann einen kleinen roten Geldbeutel aus ihrer Gürteltasche. Sie nahm zehn Dollar heraus und legte den Schein auf die Zeitschrift.
»Vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte sie höflich, drehte sich um und ging.
Ich lief nicht hinter ihr her, versuchte nicht, ihr die zehn Dollar zurückzugeben. Ich sah ihr nach und fand sie wesentlich erwachsener als mich.
Irina erschien in meinem Blickfeld, lehnte sich an den Durchgang, als hätte sie nicht die Kraft, sich allein aufrecht zu halten. »Soll ich Feliki satteln?«
Erin Seabright hatte wahrscheinlich den Job hingeschmissen. Vermutlich war sie jetzt gerade irgendwo in den Keys und genoss ihre neu gefundene Unabhängigkeit zusammen mit einem hübschen Taugenichts. Molly wollte das nicht glauben, weil dies eine totale Veränderung der Beziehung zu ihrer angebeteten großen Schwester bedeuten würde. Das Leben ist voller Enttäuschungen. Molly würde das auf die gleiche Weise lernen müssen wie alle anderen: indem sie von jemandem, den sie liebte und dem sie vertraute, im Stich gelassen wurde.
Irina stieß einen theatralischen Seufzer aus.
»Ja«, sagte ich. »Sattle Feliki.«
Sie ging auf die Box der Stute zu. Ich stellte ihr eine Frage, auf die ich besser keine Antwort bekommen hätte.
»Irina, kennst du einen Springpferdtrainer namens Don Jade?«
»Ja«, erwiderte sie gleichgültig, ohne auch nur zu mir zurückzuschauen. »Der ist ein Mörder.«
2
Die Pferdewelt wird von zwei Arten Menschen bevölkert: denen, die Pferde lieben, und denen, die Pferde und die Menschen, die sie lieben, ausnutzen. Yin und Yang. Für alles Gute auf der Welt gibt es ein Gegengewicht. Ich selbst habe immer gefunden, dass das Böse das Gute bei weitem überwiegt, dass es nicht genug Gutes gibt, um uns über Wasser zu halten und nicht in einem Meer der Verzweiflung ertrinken zu lassen. Aber das bin nur ich.
Einige der nettesten Menschen, die ich kenne, hatten mit Pferden zu tun. Liebevolle Menschen, die sich selbst und ihre Bequemlichkeit geopfert hätten für die Tiere, die ihnen vertrauten. Menschen, die ihr Wort hielten. Menschen mit Integrität. Und einige der abscheulichsten, hassenswertesten, verdorbensten Individuen, denen ich je
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