Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
mitzunehmen. Nun, Meister Hegget hatte keinen Sohn, nur fünf Töchter, die es unter die Haube zu bringen galt, und in dem Fall vielleicht sogar einen Schwiegersohn zu gewinnen, der eines Tages das Boot und das Handwerk übernahm. Dann wäre sie mit ihrem Vater und Stig alleine. Wie sollte sie das schaffen? Elas Blick wanderte wieder zu dem Riss in der Fensterhaut. Hinter den Bäumen ragten die Berge hoch auf und verstärkten nur das Gefühl von Enge, das sie in letzter Zeit empfand. Erst hinter diesen Bergen begann die weite Welt, die sie so gerne sehen würde. Es gab einige junge Männer aus der Gegend, die vorsichtig um ihre Hand warben oder geworben hatten. Aber wer waren die schon? Zwei Bauernburschen aus den Dörfern, drei tumbe Handwerksgesellen aus Atgath, ein Muttersöhnchen von der Wache. Keiner von denen konnte ihr mehr bieten als ein anderes zu enges Haus, und keiner dachte auch nur daran, mit ihr dieses armselige Nest zu verlassen.
Der Fremde stöhnte leise auf, und sie fand es viel angenehmer, sich mit ihm als mit ihrem Vater und ihren eigenen Sorgen zu beschäftigen. Er schien von irgendwo aus dem Süden zu stammen, von irgendeinem fernen Ort dieser Welt, von der sie so wenig wusste und von der sie wohl niemals mehr zu sehen bekommen würde als dieses enge Tal zwischen den Bergen. Sie trat näher an die Schlafstatt heran. Gemeinsam mit Asgo hatte sie den jungen Mann ausgezogen, trockengerieben und in ihre Decke gepackt. Ihr Bruder hatte die ganze Zeit dämlich gegrinst, aber sie hatte versucht, sich nicht ablenken zu lassen. Sie hatte schon nackte Männer gesehen, schließlich hatte sie ihre beiden Brüder großgezogen, und ihr Vater war an Badetagen recht ungezwungen mit seiner Nacktheit umgegangen. Aber so einen Körper hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen: Er war schlank, eher sehnig als kräftig, die Hände waren schmal, die Finger feingliedrig – das waren keine Hände, die viel schwere Arbeit verrichteten. Gleichzeitig war der Körper von alten Narben bedeckt. Er musste einiges durchgemacht haben. Auch die Nase schien gebrochen zu sein, was seinem ebenmäßigen Gesicht etwas Verwegenes gab. Und dann das lange, glatte schwarze Haar! Wer war dieser Fremde nur? Und was hatte er mit ihrem Vater zu tun? Sie seufzte, denn sie musste sich wohl gedulden, bis er wieder erwachte. Und sie hoffte sehr, dass er vor ihrem Vater zu sich kam. Und wenn er gar nicht erwachte?
Die Hüttentür öffnete sich. » Schläft er immer noch?« Es war Asgo, der mit seinem Bruder Stig einen Rundgang zu den Kohlemeilern gemacht hatte.
Ela nickte. » Du bist schon zurück?«
» Ich kann ja auch noch später zum See gehen. Mir ist gar nicht wohl dabei, dich mit ihm allein zu lassen, Schwester.«
» Ich weiß mich schon zu wehren«, sagte Ela und verwies mit einem Nicken auf die Axt, die über der Tür hing.
Asgo nickte ernst. » Das ist mir klar, aber dieser Fremde ist mir dennoch unheimlich. Ich finde, es liegt etwas sehr Hartes in seinen Zügen, und ich habe gesehen, dass er Narben und ein paar frische blaue Flecke hat, aber ich habe keinerlei schwere Verletzung entdecken können, und deshalb verstehe ich nicht, warum er nicht aufwacht. Betrunken scheint er mir ja nicht zu sein.«
» Das stimmt, ich habe nicht mal eine gebrochene Rippe gespürt, als ich ihn untersucht habe.«
» Und du hast ihn sehr gründlich untersucht, Schwester.«
Aus dem Augenwinkel sah Ela ihren Bruder breit grinsen, aber sie beschloss, nicht darauf einzugehen.
» Wo hast du Stig gelassen?«, fragte sie stattdessen. Die Pantoffeln ihres Vaters standen am Herd, um zu trocknen. Stig hatte seine eigenen Schuhe wieder angezogen, obwohl ihr Vater natürlich vergessen hatte, sie zum Schuster zu bringen. Er hatte die lose Sohle unter ihrem zweifelnden Blick einfach mit einem Strick befestigt und behauptet, dass das reichen würde.
» Er sieht noch einmal nach dem Pferd«, antwortete Asgo.
Ela nickte. Stig ging dem Anblick seines betrunkenen Vaters aus dem Weg, aber sie fand es seltsam, dass er gar nicht neugierig auf den Fremden war.
» Vielleicht sollten wir den Kleinen ins Dorf schicken. Tante Zama könnte Rat wissen«, schlug Asgo vor.
Daran hatte Ela natürlich auch schon gedacht. Die alte Zama war nicht ihre richtige Tante, sie war die Heilerin eines Dorfes, das ein gutes Stück südlich der Stadt lag. Sie schüttelte den Kopf. » Dann könntest du auch gleich einem Marktschreier Geld dafür geben, dass er die Neuigkeit ausruft, und ich
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