Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Störung: Er stand im Sturmkreis, den er am Morgen auf die Dielen gezeichnet hatte, und der Wind antwortete ihm nicht. Er hatte getötet, mit Magie. Es war zwar nicht einmal absichtlich geschehen, und es hatte mit den Homunkuli Kreaturen getroffen, bei denen er sich nicht ganz sicher war, dass sie wirkliche Lebewesen waren, aber dennoch gelang es ihm nicht, den Wind zu beschwören. Zweimal hatte er ihn fast gehabt, hatte das Laub in seinen Händen schon angefangen zu wispern, aber dann war ihm die Kontrolle wieder entglitten. Die Magie verweigerte sich ihm immerhin nicht ganz, das nahm er als ein Zeichen, dass auch sie die Homunkuli offenbar nicht als richtiges Leben erachtete. Er seufzte und ging zum Schreibtisch, um ein paar der Papiere zu ordnen, die er am Morgen in aller Eile aufeinandergeschichtet hatte. Die Sterntabellen, die ihm gestern noch so wichtig gewesen waren und die er nun ansah, als hätte er sie in einem früheren Leben verfasst, lagen in wirrem Durcheinander auf dem Fußboden. Er hob sie auf und betrachtete die Zahlenkolonnen. Die Sterne konnten ihm nicht helfen. Er fragte sich, wie die Schatten diesen Zwiespalt überwanden. Ihr ganzes Leben war doch Tod durch Magie – wie schafften sie es, die Quelle ihrer Macht mit diesem Widerspruch zu versöhnen? War es vielleicht etwas, das im Inneren des Magiers begründet lag, und nicht in der Magie selbst? » Theorie«, schnaubte er und warf die Blätter, die er eigentlich hatte ordnen wollen, ungeduldig wieder zu Boden.
Hatte Brahem ob Gidus vielleicht Recht? War die Baronin doch nicht so wohlmeinend, wie er annahm, oder spielte der listige Gesandte hier nur ein eigenes Spiel? Eigentlich hatte er selbst der Baronin auch misstraut, bis sie von Hamochs abscheulichen Taten in den Katakomben der Burg berichtet hatte. War das vielleicht wirklich nur Berechnung? Dass Beleran, dieser Träumer, mit den ganzen undurchsichtigen Geschehnissen in Atgath nichts zu tun hatte, war Quent klar. Habe ich dieses Weib unterschätzt?, fragte er sich. Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Auch das konnte er den Wind fragen! Es war nichts, was man in der Schule des Lebendigen Odems gerne sehen würde, aber er konnte den Wind fragen, der um die Mauern der Burg wehte, der jede Gasse, jeden Winkel der Stadt durchstrich. Er würde ihm zutragen, was gesprochen wurde, und dann würde die Baronin keine Geheimnisse mehr vor ihm verbergen können. Quent blies den Staub von seinen alten Notizbüchern. Es waren viele, und er hatte sie lange nicht mehr durchgesehen. Er überflog die Zeilen, die er einst selbst in Geheimschrift verfasst hatte, denn er suchte einen bestimmten, schwierigen Zauber. Ihm war klar geworden, dass es nicht reichte, den Wind berichten zu lassen, er musste selbst hören, was gesprochen wurde. Schließlich fand er, was er suchte. Murmelnd überflog er die Zeilen. Wie viel er doch vergessen hatte!
Er begann, frisches Laub auszuwählen, aber dann hielt er inne. Von dem, was in der Burg, in der Kammer der Baronin gesprochen wurde, würde er nichts hören, es sei denn, sie war so närrisch, ein Fenster zu öffnen – das hatte er nicht bedacht. Dann schüttelte er den Kopf: Irgendwo stand doch immer eine Tür oder ein Fenster offen, und der Wind drang selbst durch kleinste Ritzen, wenn er richtig geführt wurde. Ein schwieriger Zauber, ein Zauber, für den ein einfacher Sturmkreis nicht reichte. Aber da die Magie ihm im Augenblick ohnehin nicht gewogen war, hatte er genug Zeit, den Spruch gründlich vorzubereiten. » Dreifacher Kreis und doppelte Zeichen«, murmelte er, nahm die Kreide und begann, den Boden dicht mit Zeichen zu beschreiben.
» Du solltest einen Schritt zurücktreten«, sagte Marberic schließlich und erhob sich.
Sahif gehorchte, ohne zu fragen. Er hatte dem Mahr ungeduldig zugesehen, wie er in sich selbst versunken vor sich hinmurmelte, und jetzt, endlich, war es wohl so weit, und sie konnten die Wand, die ihren Weg blockierte, beseitigen.
» Noch weiter«, riet Marberic freundlich.
Als Sahif dreißig Schritt entfernt war, hörte er einen einzelnen knirschenden Laut, einen Ruf in der Mahrsprache. Für einen Augenblick geschah nichts, dann lief ein leises Knistern durch den Stein, und nicht nur durch den Stein: Sahif war, als würde es auch durch seinen Körper laufen. Sämtliche Haare standen ihm zu Berge, er fühlte sich plötzlich schwach und hatte Schwierigkeiten zu atmen, dann ertönte ein lautes, trockenes Knacken, scharf wie ein
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