Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
gewesen, gebeugt von Schwermut, menschenscheu und völlig unfähig, sich um seine Stadt zu kümmern? War er nicht schon seit Jahren kaum noch vor die Tür seiner Gemächer getreten? Sie waren ohne ihn besser dran, und dennoch weinten sie um ihn wie um einen Vater. Es waren wirklich Schafe.
» Glaubt Ihr, dass Euer Bruder entkommen wird?«, fragte Almisan leise.
» Ich hoffe nicht.« Shahila wandte sich ihrem Vertrauten zu und musterte seine ausdruckslose Miene. Es gab da etwas, was sie nicht verstand: » Ich frage mich, warum du ihn nicht schon auf dem Gang erledigt hast, Almisan.«
Die Miene des Hünen blieb unbewegt. » Ich hatte keine Gelegenheit dazu, Hoheit, denn ich musste mich um einige Soldaten kümmern.«
Shahila sah ihm prüfend in die Augen, aber dann wandte sie sich ab und zuckte mit den Achseln. Es war Almisan, er hatte schon ihrer Mutter gedient, und sie würde ihm ihr Leben anvertrauen. » Er wird nicht weit kommen. Ich nehme an, unsere Bergkrieger sind auch hinter ihm her?«
» So ist es, Hoheit.«
Shahila sah den Feldscher eintreten. Er verneigte sich unsicher vor ihr, dann trat er an die Leiche des Herzogs heran. Seine Finger zitterten, als er die klaffenden Wunden an Hados Hals untersuchte. » Ist sicher, dass Quent wirklich tot ist?«, fragte sie ihren Vertrauten flüsternd.
» Er ist es. Wirklich, er war ein starker Zauberer. Ich glaube nicht, dass ich jemals gegen einen stärkeren Gegner gekämpft habe.«
» Und du hast ihn besiegt.«
» Nein, Hoheit, das Sprengpulver hat ihn besiegt, ich habe ihm nur den Gnadenstoß versetzt. Es ist beinahe traurig, dass ein Mann wie Quent ein derart unwürdiges Ende findet. Seht hinaus – er hat einen Schneesturm beschworen. Was für eine Macht! Aber jetzt ist sein Leichnam in den Händen des Adlatus, und ich nehme an, dass der ihn schon für eines seiner widerlichen Experimente benutzt.«
» Sehr gut«, murmelte Shahila, für den Augenblick gedankenverloren.
» Was beschäftigt Euch, Hoheit?«
Shahila lächelte. » Wenn mein Gemahl erst einmal Herzog ist, wirst du diese Anrede wieder mit voller Berechtigung verwenden können.«
» Hoheit ist nicht nur eine Frage des Titels«, entgegnete der Rahis mit unbewegter Miene.
Shahila seufzte. » Lassen wir das. Als Hado starb, da hat er Sahif etwas ins Ohr geflüstert. Und der Blick meines Bruders … ich weiß nicht, es lag so etwas wie Triumph darin. Und das gefällt mir nicht.«
» Was könnte er ihm gesagt haben, Hoheit?«
» Ich weiß es nicht. Kann es das magische Wort gewesen sein?«
Almisan schüttelte den Kopf. » Nach allem, was der Baron darüber gesagt hat, kann der Herzog es nur in der geheimen Kammer aussprechen, und dann auch nur, wenn niemand bei ihm ist. Ein sehr wirksamer Zauber, den die Berggeister da gewebt haben.«
» Diese Mahre sind wirklich sehr vorsichtig, was ihre Geheimnisse betrifft, nicht wahr?«
» Sechshundert Jahre haben sie sie erfolgreich bewahrt. Doch schon bald gehören sie uns, Hoheit.«
» Ja, schon bald«, antwortete Shahila, und sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis das magische Wort in Belerans Kopf erscheinen würde. Sie blickte auf ihre Hände. Es klebte immer noch Blut daran, doch sie hatten aufgehört zu zittern.
Sahifs steifgefrorene Finger verloren den Griff. Er rutschte ein gutes Stück die Turmmauer hinab, riss sich am rauen Mauerwerk die Hände und die Kleider auf, bis er unsanft auf dem alten Wehrgang landete. Von oben erklangen wütende Stimmen. Sahif hastete weiter. Dann hörte er, wie Menschen auf der Straße zur Burg hinaufriefen und wissen wollten, was es denn gäbe.
» Der Mann dort, da auf der Mauer, er hat den Herzog ermordet!«, lautete die Antwort.
Da war Sahif schon in einem anderen alten Turm verschwunden und auf dem Weg nach unten. Er war aus der Tür, bevor die Menschen auf der Straße den Schrecken verdaut hatten, aber als er um die nächste Ecke bog, hörte er es schon: » Haltet ihn, fasst ihn! Haltet den Mörder!« Er rannte die Gasse entlang. Bald hörte er ein Rumoren in den Straßen, auf- und abschwellende Rufe von » Mord« und » Mörder«, laut und gleichzeitig seltsam gedämpft vom Schnee, der in dichten Schauern vom Himmel fiel. Was hätte er darum gegeben, sich in einem Schatten verstecken zu können, aber sein altes Ich verriet ihm nicht, wie man das anstellte. Er rannte in den schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern und stellte fest, dass es eine Sackgasse war.
Also kletterte er über eine Mauer
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