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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Angstlaut.
    »Na los doch, hoch mit dir!«
    Im Hinblick auf die Entfernung tippte Winnie Heller darauf, dass er mit der sportlichen Brünetten sprach. Mit der Frau, die sie nicht hatte bedienen wollen und die kurz vor dem Überfall bei den Geldautomaten gestanden hatte.
    »Wo ist dein Vorgesetzter?«
    Am Rauschen ihres Bluts vorbei versuchte Winnie Heller, eine Reaktion der Kassiererin auszumachen, doch sie konnte nichts hören. Nun mach schon, antworte ihm, flehte sie im Stillen. Sag um Himmels willen irgendwas, sonst erschießt er dich!
    »Nein, verdammt, nicht der«, zischte die Stimme des Anführers mit schneidender Schärfe, und Winnie Heller wurde schlagartig klar, dass die Brünette offenbar sehr wohl reagiert hatte. Wenn auch nicht mit Worten. »Ich meine den anderen.«
    Durch die Stille, die wie ein zentnerschweres Gewicht auf der Schalterhalle lastete, dröhnte das trockene Schlucken der Bankangestellten, als werde es durch ein unsichtbares Mikrophon verstärkt. »Er ... Herr Lieson ist nicht hier.« Sie sprach erstaunlich fest, auch wenn in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Worten deutlich ihre Angst durchschimmerte.
    »Sieh mich an.« Jetzt klang er wieder vollkommen ruhig, fast höflich. »Name?«
    »Kuhn«, antwortete die Bankangestellte, mühsam beherrscht. »Iris Kuhn.«
    »Na schön, Iris Kuhn. Und wo ist Herr Lieson stattdessen?« »Er hatte ... Er musste weg. ... Ein ... Ein dringender Termin in Genf.«
    Der Anführer sagte nichts, und abermals konnte Winnie Heller ihre Neugier einfach nicht länger im Zaum halten. Entgegen aller Vorsätze drehte sie den Kopf zur Seite und bekam gerade noch mit, wie der Mann, von dem sie nichts als eine dunkle Silhouette sehen konnte, einen Blick mit jemandem tauschte, der sich irgendwo außerhalb ihres Gesichtsfelds befand. Vor ihm auf dem Boden kniete tatsächlich die athletische Kassiererin, die Hände in der Luft und einen Anflug von Trotz im angstflackernden Blick.
    Was wollen diese Kerle von einem Mann, der gar nicht hier ist?, überlegte Winnie Heller, und mit einem Gefühl wachsender Beklemmung dachte sie an die Antwort der Kassiererin. Herr Lieson musste weg. Ein dringender Termin in Genf. Etwas, das die Männer ganz offenbar nicht einkalkuliert hatten. Eine Panne.
    »Ich warne dich«, wandte sich der Anführer wieder an die Brünette, und als er den Kopf drehte, erkannte Winnie Heller, dass er eine Art Sturmhaube trug, die nur seine Augen freiließ. Der flehende Blick der Kassiererin glitt an ihm vorbei und blieb irgend wo in Winnies Rücken hängen. »Verarsch mich nicht, sonst ...«
    »Ich ... Bitte glauben Sie mir ...«, stotterte die Frau, jetzt in helllichter Panik. »Herr Lieson musste ...«
    »Es stimmt, was sie sagt«, kam ihr in diesem Moment völlig überraschend eine angenehm dunkle Männerstimme zu Hilfe, und während die Stiefel des Maskierten, den Winnie Heller seiner unübersehbaren Führungsrolle wegen »Alpha« getauft hatte, an ihr vorbeistürmten, überlegte sie fieberhaft, wer außer der Dicken mit dem Einkaufsroller sich in der Schalterhalle aufgehalten hatte, als sie eingetreten war.
    Seit letztem Herbst, seit ein Unbekannter auf einem düsteren Parkplatz über sie hergefallen war und sie um ein Haar vergewaltigt hatte, bemühte sie sich, ihre Umgebung in jeder Lebenslage bewusst wahrzunehmen. Die Geschichte von damals hatte auf einer Kombination aus Unvorsichtigkeit und Zufall basiert, eine Begebenheit, die keine relevante Vorgeschichte und zu ihrer größten Erleichterung auch kein allzu unangenehmes Nachspiel gehabt hatte. Aber ihr war bewusst, dass die Situation sie damals sozusagen kalt erwischt hatte. Dass sie auf unverzeihliche Weise unvorbereitet gewesen war. Und dass sie es lediglich einer Gruppe fremder Menschen verdankte, mit halbwegs heiler Haut davongekommen zu sein. In ungezählten Nächten hatte sie sich das Hirn zermartert, warum sie so erbärmlich wenig über ihren Angreifer hatte sagen können. Und das, obwohl der Mann damals nicht einmal maskiert gewesen war. Trotzdem war sein Gesicht nichts als ein dunkler Fleck in ihrer Erinnerung, eine Lücke, die sich jedem Zugriffsversuch ihres Bewusstseins auf das Vehementeste widersetzte. Nie wieder werde ich so gottverdammt unwissend sein, hatte sie sich geschworen, und am Tag nach dem Überfall hatte sie damit begonnen, im Geiste detaillierte Beschreibungen aller Menschen anzufertigen, denen sie sich länger als ein paar flüchtige Augenblicke gegenübersah. Sie

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