Schattenriss
Bierflasche, die aus den türkis- und ockerfarbenen Ablagerungen ragte wie eine Anklage gegen das mangelnde Umweltbewusstsein ihres einstigen Besitzers.
Die meisten Menschen sind Schweine, dachte er mit einer Mischung aus Amüsement und Abscheu.
Linker Hand befand sich eine Betonwand voller Graffiti. Davor ein wenig einladender Kinderspielplatz. Er brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass das Kletterhaus vor der verschmierten Wand rot und die Rutsche orange war. In seinem Kopf existierte ein präzises Bild der Gegebenheiten. Wie abfotografiert.
Seltsamerweise musste er auch jetzt wieder an die Blicke denken, mit denen ihn Teja und Andreas gelegentlich bedachten. Die Erinnerung daran ließ eine leise Aggression in ihm aufkeimen. Etwas, von dem er wusste, dass es nicht förderlich war für das, was er zu tun hatte. Aber er konnte nicht anders. Er musste sich aufregen. Immer noch. Immer wieder. Wenn es Angst wäre, echte Angst, gut, das hätte er sich gefallen lassen. Er mochte es, wenn er in den Augen eines Gegenübers Furcht aufblitzen sah. Jemanden zu fürchten bedeutete zugleich, ihn zu respektieren. Und der Junge, Little-Jo, der sah ihn auch genau auf diese Weise an. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er den Kleinen so mochte. Na ja, mögen war vielleicht zu viel gesagt. Aber er hatte nichts gegen ihn.
Etwas, das bei ihm eher selten vorkam.
Er hielt sich links und ging dicht an den funkelnden Scheiben des »Spitals« vorbei. Die meisten Fenstertische waren belegt, verzerrte Menschen, die Kaffee und Tee tranken und deren leere Blicke sein Gesicht bereits wieder vergessen hatten, noch bevor es aus ihrem beschränkten Horizont verschwunden war.
Sicherheit, dachte er, während er nicht zu langsam, aber auch nicht zu schnell weiterging, ist nichts als eine plumpe Illusion. Polizeipräsenz, Spürhunde, Überwachungskameras, Metalldetektoren vor Gerichtssälen, an Flughäfen, bei sportlichen Großereignissen, alles gut und schön. Aber null Komma wie viel Prozent der Angriffsfläche einer Gesellschaft deckten solche Maßnahmen ab? Er mochte Rechenspiele. Kalkulationen. Wahrscheinlichkeiten. Im Grunde bräuchte Al Qaida nur zu H&M zu gehen, dachte er. Oder auf den Jahrmarkt. Oder an irgendeinen anderen Ort, wo ahnungslose Bürger vollkommen ungeschützte Ziele abgeben. Wenn es irgendwer tatsächlich darauf anlegte, so viele Menschen wie möglich zu töten – es wäre so gottverdammt einfach! Wie eine Epidemie könnte man von Stadt zu Stadt ziehen, spurlos, gesichtslos. Man könnte auftauchen und untertauchen, wie es einem gerade in den Kram passte, und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen.
Aber so etwas hatte er natürlich nicht vor.
Schließlich war er kein Unmensch.
Er handelte planmäßig und absolut zielgerichtet.
Präzision, hatten ihm seine Ausbilder eingebläut, Unauffälligkeit, Genauigkeit, Timing. Die drei Grundpfeiler des Erfolgs.
Mit leichten Schritten stieg er die elf Stufen zur Taunusstraße hinauf und nahm seine Position ein. Keiner der Menschen auf dem Platz, den er jetzt von oben betrachtete, nahm auch nur die geringste Notiz von ihm. Von seinem erhöhten Standpunkt aus wirkten die Leute geradezu nichtig. Heimwärts huschende Ziele, den Bürofrust noch auf den Schultern, im Kopf schon den Feierabendstreit mit der Liebsten. Das erste Bier. Die Daily Soap. An Farben überwog zwar noch das typisch winterliche Einheitsdunkel, aber hier und da waren bereits erste Farbtupfer beigemischt, Tribut an den unaufhaltsam nahenden Frühling.
Die tief stehende Sonne tauchte den Platz in verheißungsvoll goldenes Abendlicht, doch die Luft roch trotzdem irgendwie nach Regen. Oder zumindest nach Wasser. Das war eins der ersten Dinge, die ihm am Rheinland aufgefallen waren. Dass es hier immer und überall irgendwie nach Wasser roch. Aber nicht frisch und sauber wie an der Nordsee, sondern abgestanden. Dumpf und moosig, genauso wie der Rhein aussah, wenn einmal nicht die Sonne schien wie auf all diesen Postkartenfotos, die mit nimmermüder Penetranz die nahe Loreley und den Wein und die deutsche Romantik beschworen.
In seinem Rücken brandete ein reger Feierabendverkehr, und während er sich den Knopf ins Ohr schob, der ihm das Signal geben würde, dachte er, dass er den Rhein nicht mochte. Und diese Stadt mit ihrem verblichenen Kurglanz und all diesen versnobten Rentnern mochte er auch nicht. Seine Augen folgten einer elegant gekleideten Frau in High Heels, die einen puppigen
Weitere Kostenlose Bücher