Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
stand Rufus auf und schulterte den Rucksack. Erst an der Tür drehte er sich noch einmal um, allerdings immer noch meinen Blick meidend. »Behalt den iPod ruhig. Vielleicht lenkt die Musik dich ja ein wenig ab. Das wünsche ich dir jedenfalls.«
Nachdem Rufus gegangen war, saß ich noch eine ganze Weile auf seinem Bett und starrte auf das silberne Rechteck in meinen Händen. Irgendwann konnte ich meinen Frust nicht mehr zurückhalten und presste mein Gesicht tief in sein Kopfkissen, um mit meinen Schreien nicht etwa meine Eltern anzulocken. Schließlich war es Lena, die sich zu mir aufs Bett setzte und etwas ungeschickt meinen Rücken tätschelte.
»Tob dich ruhig aus«, sagte sie und klang dabei, als würde sie selbst gleich in Tränen ausbrechen. »Aber Rufus kommt sicherlich schon in ein paar Tagen wieder. Tief in seinem Herzen ist er doch ein Muttersöhnchen.«
Ich seufzte ein letztes Mal in das Kissen und ärgerte mich darüber, dass ich den Bezug zerknittert und mit Lipgloss beschmiert hatte. Nun würde meine Mutter das Bett sicherlich frisch beziehen, dabei wollte ich diesen Ort, der so tröstlich nach meinem großen Bruder roch, nicht verlieren.
»Wir machen uns eine schöne Zeit, lungern rum und essen Eis. Du kannst endlich mal das Bild von Artemis zeichnen, das du mir schon vor Jahren versprochen hast. Dann helfe ich auch freiwillig deiner Mutter im Garten. Das wird total nett, du wirst schon sehen.« Lena war die Erleichterung deutlich anzusehen, als ich mich endlich wieder aufrichtete und ihr zunickte. »Zwei Mädels wie wir werden doch wohl den Sommer rumkriegen.«
»Ja«, sagte ich. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht so erschöpft gefühlt. »Wenn nicht wir, wer dann?«
14
Verführerisches Feuer
Lena stand vor dem Spiegel im Badezimmer und versuchte, ihr Haar zu einem Bauernzopf einzuflechten. Doch egal, wie sie es anstellte, immer entwischte ihr eine der kurzen Strähnen und stand zu Berge. »Mist«, fluchte sie zum hundertsten Mal.
»Hör mal, Lena. Ich sag ja sonst nie was zu deinem Äußeren. Aber grüne Punkerhaare zu einem Bauernzopf flechten zu wollen, ist irgendwie schräg.«
Lena zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Ich will die Haare nicht ins Gesicht hängen haben, und unter einem Tuch wird es mir zu heiß.«
»Wie wäre es, wenn du deinen Reithelm einfach gleich aufsetzt?«
»Sehr lustig. Der Witz hätte auch von Rufus sein können.« Sobald sie den Namen aussprach, trübte ein Anflug von Traurigkeit Lenas Elan ein. Sie stand mit herabhängenden Armen da, das Gestrüpp auf ihrem Kopf war vergessen.
Entgegen ihrer Prognose war Rufus nicht sofort nach Hause zurückgekehrt, nachdem er den ersten Tag an einer Autobahnraststätte verbracht hatte, weil niemand die drei Jungs hatte mitnehmen wollen. So verwöhnt er auch sein mochte, diese Backpacker-Nummer machte ihm Spaß. Mein Bruder rief alle paar Tage durch, um mich über die skurrilen Geschichten, die ihnen offensichtlich ständig zustießen, auf dem Laufenden zu halten. Ich war so etwas wie sein lebendes Tagebuch. Allerdings hatte ich nach der Sache mit der Matratze in einem billigen Hotel, die nachts zum Leben erwacht war, weil so viel Viehzeugs drin lebte, beschlossen, selbst nie auf so eine Tour zu gehen. Das klang sogar aus der Entfernung alles sehr unappetitlich, auch wenn Rufus sich bestens amüsierte. Dies Art von Abenteuer war ganz und gar nach seinem Geschmack.
Auch mir fehlte Rufus mehr, als ich zugegeben hätte. Dass ich mich jemals über die stets offen stehende Zahnpastatube und die abrasierten Barthaare auf der Badematte, den dauerlaufenden Fernseher und die Sneaker-Armee in der Diele aufgeregt hatte, konnte ich mir schon gar nicht mehr vorstellen. Mir fehlten seine witzigen Kommentare, die Nachmittage, die wir quatschend auf dem Sofa verbracht hatten, und die Tatsache, dass man einen großen Bruder vor Ort brauchte, um kleine Schwester sein zu können. Trotzdem war ich froh, dass Rufus anscheinend keine Anstalten machte, seine Reise frühzeitig abzubrechen. Denn obgleich er die Albträume, die ihm so zugesetzt hatten, mit keinem Wort erwähnte, war ich mir sicher, dass sie nachgelassen hatten. Im Gegensatz zu mir gelang es ihm offensichtlich, aus dem Schatten zu treten, der unser Leben seit jener Mainacht verdunkelt hatte.
Ich trat hinter Lena und löste mit dem Kamm erst einmal das Chaos auf, das sie auf ihrem Kopf veranstaltet hatte. Als ich so dicht hinter ihr stand, roch ich, dass sie sich mit
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