Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
war, oder weil mich einige auf der Frühlingsfeier am Strand mit Sam zusammen gesehen hatten. Auch Lena beobachtete mich ununterbrochen aus den Augenwinkeln, seit sie mir - kaum dass sie mit ihren Eltern von der Wochenendfahrt zurückgekommen war - zu Hilfe geeilt war und mich in die Arme geschlossen hatte.
»Sam ist nicht tot«, erklärte ich ihr unumwunden, während ich so stocksteif dastand, wie sie es ansonsten bei meinen Umarmungen immer tat. »Das weiß ich.«
Lena konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Vermutlich hielt sie mich für besonders tapfer, wie alle anderen auch, weil ich jedes Zeichen von Trauer verbarg. Die still Trauernde. »Woher willst du das wissen?«
Ohne es zu wollen, begann ich zu blinzeln. Lena hatte recht, ich wusste es nicht und ich konnte ihn auch nicht spüren. Da, wo einst Sams Platz in meiner Welt gewesen war, war nun eine Leere. Aber so sah der Tod nicht aus.
»Ich weiß es eben«, erwiderte ich, aber es schlich sich ein Zögern ein, das mir nachts den Schlaf zu rauben begann und mich tagsüber betäubte, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte. Wenn ich Zweifel zuließ, würden alle Dämme in mir brechen, und dann wäre Sam tatsächlich für immer fort. Verloren. Also schwieg ich und verbannte jeden Gedanken und jedes Gefühl aus mir.
Nur einmal sah es so aus, als könnte ich dem Druck nicht länger standhalten. Die Pfingstfeiertage standen vor der Tür und meine Eltern hatten Rufus und mich für einige zusätzliche Tage aus der Schule genommen, um auf einen Segeltörn zu gehen. Normalerweise hätte ich mich gegen ein solches Unternehmen gesträubt und versucht, die Tage bei Lena unterzukommen. Aber im Augenblick brauchte ich die Nähe meiner Familie mehr, als ich mir eingestehen wollte. Die Sanftheit meiner Eltern und Rufus’ Gegenwart, dem es in seiner Schweigsamkeit nicht anderes erging als mir, waren wie ein Schutzraum. Was auch immer Sams Verschwinden in mir ausgelöst hatte, ich konnte mich dem einfach noch nicht stellen. Diese Menschen wussten darum und allein das half mir.
Nachdem das Frühjahr mit überraschend schönem Wetter gestartet war, hing nun ein undurchdringliches Wolkenband am Himmel und der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Entgegen meinen sonstigen Erfahrungen stellte sich auf diesem Segeltörn keine Übelkeit ein und ich war sogar jedes Mal froh, wenn meine Eltern eine Aufgabe für mich hatten. Rufus ging es nicht besser, denn sobald er einmal seine Apathie abgestreift hatte, lief er über Deck wie ein Aufziehmännchen. Nur die Zähne bekam er nicht auseinander und unter seinen Augen zeichneten sich die gleichen schwarzen Balken ab wie unter meinen.
Gleich in der ersten gemeinsamen Nacht in der Kajüte - ich lag in der Koje über ihm - hatte ich herausgefunden, dass mein Bruder nur schlecht in den Schlaf fand, und wenn er denn einschlief, wälzte er sich unruhig hin und her, bis er keuchend hochfuhr. Ich lag mit geschlossenen Augen über ihm und wehrte die Trostlosigkeit ab, die nach mir griff. Jeder von uns kämpfte seinen eigenen Kampf und so, wie es aussah, würden wir beide nicht mehr lange durchhalten.
In einer Nacht jedoch konnte ich meine Distanz nicht länger aufrechterhalten. Rufus war nach einigem Gewälze in einen unruhigen Schlaf gefallen, während das Segelschiff im Rhythmus der aufgewühlten See tanzte. Noch sperrte ich mich erfolgreich gegen die Müdigkeit, da sich meine Träume in vermintes Gelände verwandelt hatten. In ihnen gab es keinen Sam, der mir die Hand entgegenstreckte, sondern nur sich windende Schatten, die sich um mich legen wollten wie eine zweite Haut. Diese Albträume waren schwache Abbilder der Vision, die ich damals während der Nachhilfe gehabt hatte. Nur, dass dieses Mal kein Sam da sein würde, um mich zu befreien, sollte ich mich wieder darin verlieren. Trotzdem zerbröckelte mein Widerstand allmählich. Bevor mich allerdings der Schlaf übermannte, drang ein schwaches Keuchen zu mir nach oben, bei dem ich sofort hellwach war. Genau dieses Geräusch hatte Rufus von sich gegeben, als er die Erinnerung an das Geschehen auf der Steilklippe erzwungen hatte. Als würde er Schmerzen leiden.
In der Dunkelheit der Kajüte glitt ich aus meiner Nische und schlüpfte neben Rufus auf die schmale Pritsche. Das T-Shirt meines Bruders war nass geschwitzt und er atmete in schnellen Stößen.
»Bist du wach?«, fragte ich ihn, da er sich trotz meiner Berührung nicht regte.
»Ja«, antwortete Rufus erst nach einer
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