Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
ganzen Weile. »Und ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut oder scheiße finden soll.«
»Geht mir genauso.«
Ich presste meine Stirn gegen seinen Oberarm und wehrte mich gegen die Tränen, die sich endlich nach so vielen Tagen ihren Weg freikämpfen wollten. Noch nicht, es war noch nicht die richtige Zeit dafür, ihnen nachzugeben. Erst wenn die Sache entschieden war, würde ich Tränen zulassen, entweder vor Glück oder aus Trauer. Aber solange nichts entschieden war, würde ich mich auch nicht fallen lassen.
»Ist er wirklich tot, Mila?« Rufus’ Stimme klang erschöpft, aber auch wütend, als würde er seinem Schicksal das Herz herausreißen, wenn er nur die Chance dazu hätte. »Warum kann ich mich an den ganzen Dreck erinnern, den Sams Vater angestellt hat, nur bei der einen entscheidenden Stelle versagt mein verfluchtes Gedächtnis? Ist er über die Klippe gefallen oder nicht?« In meinen Ohren dröhnte es, als würde er schreien, aber in Wirklichkeit sprach er leise. »Die Spuren auf meinem T-Shirt, die von Sam stammen - was bedeuten sie? Ich muss in Sams Nähe gewesen sein, okay. Hat er versucht, sich an mir festzuhalten, bevor er stürzte, oder wollte er mich wegstoßen? Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht hat dir Jonas Bristol von hinten eins übergezogen. Bei Unfällen kann man sich doch auch manchmal nicht mehr an das eigentliche Geschehen erinnern«, versuchte ich meinem Bruder zu helfen.
Doch Rufus schnaufte nur. »Bis auf diese dämliche Wunde überm Auge hatte ich nicht mal einen blauen Fleck am Körper. Du kannst mir glauben, dass die Ärzte ziemlich genau nachgesehen haben. Nein, die Erinnerung ist fort, und zurückgeblieben ist an ihrer Stelle nur mein eigener verdammter Schrei, als könnte etwas in mir einfach nicht mehr aufhören zu schreien.«
So schrecklich das auch sein mochte, zumindest spürte Rufus noch etwas in seinem Inneren. Anders als ich. Ich hing in einer Warteschleife fest, die nur durch zwei Dinge durchbrochen werden konnte: durch Sam, wenn er jemals wieder vor mir stand - oder durch den Sieg meiner Zweifel, was hieß, dass ich seinen Tod akzeptiert hätte. »Vielleicht sollst du dich ja nicht erinnern können«, dachte ich laut nach.
»Komm mir jetzt nicht mit so einem Psychologenscheiß, meine Blockade hat nix mit Selbstschutz zu tun.«
Vor Wut hatte Rufus jeden Muskel angespannt, aber davon ließ ich mich nicht abschrecken. »So meine ich das ja auch gar nicht. Vielleicht hat jemand anderer dafür gesorgt, dass du nicht weißt, wohin Sam verschwunden ist. Eine Art Trick wie bei einer Hypnose.«
Ich rechnete fast damit, dass mein Bruder mich auslachen würde, doch das tat er nicht. Regungslos lagen wir beide da, bis er schließlich sagte: »Weißt du, Mila, dass klingt gar nicht so abwegig. Ich sehe Sam am Rand der Klippe, wie der den heilen Arm zur Abwehr ausstreckt. Dann saust dieses Messer nieder und trifft seine Hand. Und das war’s, kompletter Cut, als wenn einer den Strom in meinem Kopf abgestellt hätte. Ab da ist alles schwarz. Wenn ich trotzdem versuche, hinter diese schwarze Wand zu gelangen, dann tut das weh. Als würde jemand mit seinen Fingern in meinem Gehirn herumstochern. Sobald ich das jemandem erzähle, reden die gleich von Trauma. Aber das ist es nicht.«
»Ich glaube dir«, flüsterte ich.
Und das tat ich wirklich. Wenn Sam spurlos verschwinden konnte, dann konnte er sicherlich auch dafür sorgen, dass niemand ihn verraten würde. Was für ein absurder Gedanke, sagte der vernunftgetriebene Part in mir. Aber auf den hörte ich nicht.
Die letzten Tage des Segeltörns verliefen spürbar gelassener, auch wenn weder Rufus noch ich das Thema erneut ansprachen. Allein die Tatsache, sich jemandem anvertraut zu haben, hatte bei ihm etwas gelöst und schon bald wusste er beim Segeln schon wieder alles besser als mein Vater. Er lachte sogar einige Male und blödelte mit meiner Mutter in der Kombüse herum. Das machte mich fast ein wenig glücklich, allerdings entging mir nicht, dass seinen ehemals selbstsicheren Bewegungen ein Zögern innewohnte und er seinen Blick manchmal senkte, als würde er in sich hineinhorchen. Und was er hörte, gefiel ihm nicht. Trotzdem war ich zuversichtlich, dass es meinem Bruder eines Tages wieder gutgehen würde, selbst wenn er nicht ganz zu seiner alten Höchstform zurückfinden sollte.
Auch mir selber ging es besser, denn Rufus’ Blackout bestätigte meine Hoffnung, dass Sam nicht tot war. Aber vielleicht verloren, wenn auch
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