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Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Titel: Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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ins Wohnzimmer, das von der Wärme des Tages noch unberührt und fast zu kühl für meine nackten Schultern war. Der Garten stand in vollem Grün, die Sonne funkelte durch das Laub und warf tanzende Schatten.
    Bei der Kücheninsel schenkte ich mir Eistee ein, wobei mir das glucksende Geräusch überdeutlich in den Ohren hallte. Es war ungewöhnlich still in unserem Haus: keine Reza, die das Radio aufgedreht hatte und zu Sambarhythmen die Blumenkübel auf der Terrasse neu arrangierte, keine Lena, die alles kommentierte, nicht einmal Pingpong ließ sich blicken. Vermutlich ließ die Katze sich irgendwo im Garten von der Morgensonne aufwärmen, nachdem sie sich die ganze Nacht herumgetrieben hatte. Die Stille verunsicherte mich. Schnell lief ich die Treppe hoch und holte mir Rufus’ iPod von Lenas Nachttisch, den sie in den letzten Wochen in Beschlag genommen hatte. Ihre Einschlafhilfe, wie sie mir verlegen eingestanden hatte. Hoffentlich würde die Musik auch mir helfen, nicht die Nerven zu verlieren.
    Ich stellte die Abfolge der Songs auf Variation und wurde prompt von einer klaren Frauenstimme begrüßt. Es war ein ruhiges Stück, ganz bestimmt nicht das, was ich auf Rufus’ iPod erwartet hätte. Aber doch mit einer treibenden Kraft, die eine gewisse Unruhe in mir weckte. Vielleicht hatte Sam ihm das Stück ja draufgepackt, dachte ich hoffnungsvoll. Ich schaute auf die Songlist - Aimee Mann hieß die Sängerin.
The moth don’t care if the flame is real.
So come on, let’s go. Ready or not.
‘Cuz there’s a flame I know hotter than hot.
    Bevor das Stück abbrach, drückte ich bereits auf Return , nahm meinen Zeichenblock und ging hinaus in den Garten. Auf dem Weg, der zu der Bank inmitten der Eiben führte, lag noch eine Spur von Tau. Hier duftete es nach Nadelgrün und Erdreich. Aber noch ein anderer Geruch stieg mir in die Nase, der lediglich eine Erinnerung war, und von dem ich nicht einmal wusste, ob ich ihn jemals wieder einatmen würde. Ich hatte nicht einmal einen passenden Namen für Sams Geruch. Wie leicht konnte es passieren, dass ich ihn vergaß? Wie lange würde es dauern, bis mir Sams Gesicht nur noch verschwommen vor Augen stand? Ich hatte nichts von ihm zurückbehalten, konnte mich nicht wie Lena mit seinem Aftershave einsprühen oder der Musik zuhören, die er für eine ruhige Stunde zusammengestellt hatte.
    Als ich auf der Bank saß, auf der Sam und ich uns das erste Mal nahgekommen waren, drohte die Einsamkeit mich zu übermannen. Es fühlte sich an, als würde etwas in mir absterben, wenn ich mich nicht dagegen wehrte. Mit zitternden Fingern nahm ich den Kohlestift auf und begann zu zeichnen, bevor ich mich für ein Motiv entschieden hatte. Sogleich vergaß ich meine Einsamkeit und überließ mich ganz den Bewegungen des Stiftes, während Aimee Mann über die Liebe sang.
    Schwarz auf weißem Grund zog die Kohle ihre Bahnen und ich ließ es einfach geschehen. Wie von selbst bedeckte der Stift das Papier, bis kaum noch eine Ecke frei war. Dann war meine Selbstversunkenheit mit einem Schlag beendet.
    Ich keuchte auf. Mir war, als wäre ich aus einem tiefen Traum gerissen worden. Meine klammen Finger konnten den Stift nicht länger halten und er fiel mit einem Klacken auf den Kies. Unvermittelt begann ich am ganzen Leib zu zittern, als säße ich inmitten eines Schneesturms und nicht etwa in unserem sommerlichen Garten. Als ich die Skizze auf meinem Schoß betrachtete, zitterte ich noch mehr. Vom Papier aus blickte mich Sam an, so eindringlich, als ginge es um sein Leben. Aber er war in großer Ferne, schwarze Rauchfetzen wanden sich um seinen Körper, hielten ihn fest, versuchten, ihn von mir fortzuziehen. Sein Gesicht war der einzige helle Fleck in diesem wüsten Dunkel, in dem sich etwas zu bewegen schien. Mit einem Schlag begannen sämtliche meiner Nervenenden zu brennen. Ich kannte diese Bewegung, diesenumschmeichelnden Schatten, der sich plötzlich als Käfig herausstellte. Sams Narben hatten mir seinerzeit den Weg zu ihm gezeigt.
    Ergriffen und zugleich unendlich erleichtert starrte ich die Zeichnung an. Ich hatte mich nicht geirrt: Sam war nicht tot - aber doch gefangen. Trotzdem wurde dadurch nichts leichter. Von dem Schatten ging etwas so Bedrohliches aus, dass mir der Atem stockte. Auf der Steilklippe war in jener Mainacht tatsächlich etwas Unaussprechliches passiert, nur, dass es jenseits der menschlichen Grausamkeit lag, die Jonas Bristol seinem Sohn zugefügt hatte. Ich selbst

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