Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Fingern einem ausgemachten Zittern gewichen. Fast begrüßte ich dieses unablässige Beben, denn es zwang mich dazu, mich vollkommen auf meine Aufgabe zu konzentrieren, anstatt an das zu denken, was mir noch bevorstand. Vorsichtig zerschnitt ich die restlichen Bandagen, dann war das Gesicht plötzlich freigelegt.
Auf uns wartete weder eine verzerrte oder gar hasserfüllte Miene noch eine hohle Totenmaske, obwohl das Gesicht wegen der darin eingeschnittenen Zeichen etwas Unwirkliches hatte. Es war das Gesicht eines Schlafenden, der gerade in eine Traumwelt hinüberglitt und noch nicht wusste, was ihn dort erwarten würde: ein süßes Paradies oder vielleicht doch die wahr gewordene Hölle. Darüber hinaus war es das ausdrucksvolle Gesicht eines Mannes mit ausgeprägten Wangenknochen und einer hohen Stirn, von der das ungewöhnliche Schwarzhaar in Wellen hinabfloss. Fast kam mir der Verdacht, dass es früher eine andere Farbe gehabt haben musste, die ihm verloren gegangen war. Die Lippen des breiten Mundes waren einen Hauch geöffnet, aber es ging kein Atem über sie.
»Wie Schneewittchen, das darauf wartet, wach geküsst zu werden.«
Asami warf mir einen zustimmenden Blick zu, dann streckte er die Hand nach den geschlossenen Lidern aus. Die Augen lagen unter kräftigen Brauen im Schatten, sodass ich kaum eine Veränderung erkannte, als Asami die Hand wieder zurücknahm. Suchend tastete er nach meinem Handgelenk und umfasste es so fest, bis es wehtat. Wie Eiszapfen bohrten sich seine kalten Finger in meine Haut.
»Er ist tot«, sagte er mit einer unerwartet ruhigen Stimme. »Aber zuvor ist er fortgegangen. Durch seine Pforte.«
»Das verstehe ich nicht … wie kann er …«
Dann erkannte ich, was Asami meinte: Die Augen waren nicht deshalb vor mir verborgen, weil sie in tiefen Schatten lagen. Nein. Sie waren weg. Die Höhlen waren leer.
21
Schmerzvolle Erkenntnis
Mila
Der Krankenhausflur roch nach Desinfektionsmitteln. Ein scharfer Geruch, der mir Übelkeit verursachte. Mit unters Kinn gezogenen Knien hockte ich in der Sitzecke und bemühte mich darum, die flackernde Leuchtröhre am Ende des Ganges zu ignorieren. Ich war ohnehin mit meinen Nerven am Ende, da konnte ich so was nicht gebrauchen. Erneut bereute ich es, Rufus und Ranuken heimgeschickt zu haben. Doch wenn die Leute in der Notfallaufnahme Ranuken zu Gesicht bekommen hätten, wäre alles sicherlich noch viel komplizierter abgelaufen. Deshalb hatte Rufus mich mit der schweigsamen und am ganzen Leib zitternden Lena bis zum Empfang gebracht und war dann schnell zu dem verstörten Ranuken zurückgelaufen, bevor der noch eine Dummheit beging.
Der jungen Ärztin, die sich Lenas angenommen hatte, hatte ich eine wilde Geschichte über einen Jungenstreich erzählt, bei dem Lena sich beinahe zu Tode erschreckt hatte. Während die Ärztin mit ungläubigem Ausdruck die Brille zurechtgerückt hatte, wäre ich vor Anspannung fast explodiert, weil Lena bloß in sich gekehrt auf der Krankenliege gelegen und keinen Piep von sich gegeben hatte.
»Stimmt das denn auch?«, hatte die Ärztin sie gefragt. »Auf den ersten Blick scheinst du körperlich zwar erschöpft, ansonsten aber recht fit zu sein. Nur dein Herzrhythmus
macht mir Sorgen, das werden wir uns genauer anschauen. Ich kann mir nun wirklich nicht vorstellen, dass einem Mädchen in deinem Alter ohne auffällige Krankengeschichte wegen eines Dumme-Jungen-Streichs beinahe das Herz stehen bleibt.«
Während Lena stumm zur Zimmerdecke gestarrt hatte, hätte ich alles dafür gegeben, mit ihr den Platz tauschen und das, was ihr zugestoßen war, auf mich nehmen zu können, so schrecklich schuldig fühlte ich mich. Und nun zwang ich ihr auch noch eine Lüge auf. Als Lena endlich den Blick der Ärztin erwidert hatte, war ich kurz davor gewesen, die Wahrheit herauszuschreien, bloß um meinen inneren Druck loszuwerden.
»Klingt vielleicht bescheuert, aber es war genauso, wie Mila es gesagt hat. Hab mich einfach mordsmäßig erschreckt und bin umgekippt. Kann ich jetzt schlafen?« Dabei hatte sie so ernst und überzeugend dreingeblickt, dass die Ärztin nur genickt hatte.
Richtig schlimm war es mir noch einmal ergangen, als Lenas aufgelöste Eltern aufgetaucht waren. Bislang hatte ihre Tochter das Krankenhaus nämlich nur einmal von innen gesehen. Damals, als ihr Pferd Artemis ihr auf den Fuß gestiegen war. Ihnen jetzt Rede und Antwort zu stehen, wo Lenas Mama vor Schreck so blass war wie ein Gespenst, war die
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