Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Hölle.
Das war vor einer Stunde gewesen und nun ging es auf Mitternacht zu. Mit jedem Klicken der Wanduhr am Ende des Ganges war meine Hoffnung, dass Sam noch auftauchen würde, kleiner geworden. Endlich ging die Tür zu Lenas Zimmer auf und ihre Eltern traten raus. Sie sahen zwar geschafft aus, aber zu meiner Erleichterung nicht mehr so aufgelöst. Schnell versteckte ich mich hinter einem der Sessel. Ich lauschte auf ihre Schritte und das Verklingen ihrer geflüsterten
Worte, dann waren sie verschwunden. Voller Beklemmung trat ich in Lenas Zimmer. Ich hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt noch willkommen war.
Lena lag kerzengerade ausgestreckt auf dem Rücken, obwohl ihre Beine unter der Decke wie von unsichtbarer Hand durchgeschüttelt wurden. Sich zusammenzukauern, war eben nicht ihr Ding. Mucksmäuschenstill stellte ich mich neben das Bett, bereit, alles hinzunehmen, was auf mich zukam.
»Eigentlich sollte man meinen, dass sie einem nach so ’nem Schrecken irgendwelche Opiate anbieten, aber Pusteblume. Dabei würde ich jetzt echt gern schlafen. Ich bin so was von erledigt.« Lena sprach mit geschlossenen Augen, aber als mir keine Erwiderung einfiel, schlug sie die Lider auf. »Wäre das jetzt nicht der richtige Moment, um mir zu sagen, dass ich die Sache bei den Wellenbrechern bloß geträumt habe, Mila?«
»Würde es dir denn helfen, wenn ich lüge?«
»Mir wäre es lieber, wenn du die Zeit zurückdrehen würdest. «
»Weißt du, Sam könnte das für dich tun. Ich meine, deine Erinnerung löschen. Die Schattenschwingen können so etwas. «
Lena sah mich lange aus ihren geröteten Augen an. »Klingt verführerisch, aber ich denke, ich verzichte darauf. Die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit, und ich will sie akzeptieren, auch wenn sie mich gerade echt in den Wahnsinn treibt.«
Doch Lenas Körper sah das offenbar anders: Die Linie auf dem Monitor, an den sie angeschlossen war, begann aufgeregt zu hüpfen.
»Lena, ganz ruhig«, redete ich auf sie ein, wobei meine Stimme alles andere als entspannt war.
»Ja, super! Vielleicht verrätst du mir mal, wie man ruhig bleibt, wenn die eigene Welt auf den Kopf gestellt wird?«
Lena begann zu weinen. Als ich sie in die Arme nahm, ließ sie die Umarmung nicht bloß zu, sondern krallte sich regelrecht an mir fest.
Während ich sie festhielt, verschob sich etwas in mir: Ich vergaß meine eigene Angst, meine Sorge um Lena und auch das Verlangen, Sam jetzt an meiner Seite zu haben. All meine Empfindungen wichen beiseite und gaben den Blick frei auf die Tage seit Sams Rückkehr und den ganzen Wahnsinn, der in mein Leben eingezogen war. Und nicht nur in meins, sondern auch in das der Menschen, die mir nahestanden. In meiner Sehnsucht nach Sam hatte ich ignoriert, welche Folgen der Wechsel von Schattenschwingen in unsere Welt mit sich bringen konnte. Dass die Gefahr weit über den Schrecken, dass diese überhaupt existierten, hinausging. Die Schattenschwingen waren uns in vielerlei Hinsicht überlegen und nicht alle waren uns wohlgesonnen. Nachdem Sam meinetwegen seine Pforte aufgestoßen hatte, würden andere folgen. Solche wie Shirin und Ranuken, die sich anpassten, aber auch solche wie Nikolai, die keinen Sinn dafür hatten, was ihr Auftauchen für uns Menschen bedeutete. Und schlimmer noch: die Gaben einsetzten, gegen die wir Menschen nichts ausrichten konnten.
Wie ein Schmerz jagte die Erinnerung durch mich hindurch, wie die Berührung der engelsgleichen Schattenschwinge sich innerhalb eines Atemzugs in eine Heimsuchung gewandelt hatte. Und ich hatte nur zuschauen können. Nein, was durch die Pforten trat, waren nicht ausschließlich Freunde. Aber wenn die Schattenschwingen keine Freunde waren, dann stellten sie eine unabschätzbare Gefahr für uns Menschen dar – und nicht nur für solche, die mir nahestanden.
22
Trennlinie
Der Morgenhimmel zeigte sich in einem bleiernen Grau. Passend zu meinen Empfindungen, die keinen Sonnenschein vertragen hätten. Je lebloser es um mich herum war, desto besser. Ich wollte nicht, dass irgendetwas meine Aufmerksamkeit erregte. In mir sollte Stille herrschen, ich wollte weder fühlen noch erinnern. Das ging jetzt nicht.
Wie in Zeitlupe setzte ich die Tasse an und nahm einen Schluck, ohne darauf zu achten, ob der Tee heiß oder schon kalt war. Obwohl ich es mir strengstens verbot, wanderte mein Blick zum Telefon. Ich hoffte auf einen Anruf von Lena, die letzte Nacht weinend bei mir im Arm eingeschlafen war. Es gab allerdings
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