Schattenspäher
Gleichungen, die sich auf die gespeicherten Energiebindungen bezogen, fortgewischt hatte. Für einen Moment schöpfte er Hoffnung, doch dann sah er, dass Valmin lediglich die gestrigen, sich als untauglich erwiesenen Formeln durch die vom Vortag ersetzt hatte. Es war zum Verzweifeln. Jedes Mal, wenn ein wenig Licht auf einen Aspekt des Projekts fiel, wurde gleichzeitig ein anderer in tiefe Dunkelheit getaucht.
»Guten Morgen, Reisender«, sagte Valmin, ohne von seiner Lektüre aufzusehen. Er las im Roten Buch, das nach der Farbe seines Einbands benannt worden war; Bücher zur Schwarzen Kunst mussten ohne Titel bleiben. In letzter Zeit hatte Valmin fast ausschließlich dieses Werk studiert. War er womöglich einer Sache auf der Spur?
»Was Neues entdeckt, Meister?« Timhas Stimme klang dünn und näselnd, fast krächzend.
Valmin sah kurz von seinem Folianten auf. »Vertraut mir, Timha. Hätte ich mitten in der Nacht eine Erleuchtung gehabt, hätte ich Euch eigenhändig aus dem Bett gezerrt.«
Plötzlich fühlte sich Timha den Tränen nah. Wie schmachvoll es doch wäre, hier vor Meister Valmin zu weinen wie ein Kind. Allein der Gedanke an diese Schande erstickte den Wunsch, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, im Keim. Aber es war nicht fair. Es war einfach nicht fair!
Längst schon hätte das Projekt ihnen all seine Geheimnisse offenbaren müssen. Nach der ganzen Arbeit, die sie darauf verwandt und all den Stunden, die sie über den Plänen gegrübelt hatten, wie auch über den detaillierten Anweisungen und philosophischen Anmerkungen, die Hy Pezho hinterließ. Jeder einzelne Aspekt für sich betrachtet ergab durchaus einen Sinn, sei er nun esoterischer oder eher abstrakter Natur. Doch fügte man alles gemäß den Plänen zusammen, geriet das Zusammenspiel von Alchemie, Bindungen und der Essenz des Rohmaterials so komplex, dass niemand auch nur zu hoffen wagte, es jemals zu begreifen. Kurz: Es war für einen Faeverstand schlicht und einfach unmöglich, all diese Dinge gleichzeitig zusammenzuhalten.
Valmin und Timha mussten sich eingestehen, dass Hy Pezho ein Genie gewesen war, der vielleicht größte Thaumaturg seiner Zeit, sofern man seinen Plänen Glauben schenken konnte. Doch in Hy Pezhos Biografie fand sich nichts, was darauf hindeutete, wie er zu diesem Wissen gelangt war. Der Sohn des großen Schwarzkünstlers Pezho hatte seine frühen Jahre damit zugebracht, von Stadt zu Stadt zu ziehen, das bescheidene Vermögen seines Vaters zu verprassen und der Welt nicht die geringste Veranlassung zu geben, ihn über Gebühr zu beachten. Dann war er einige Jahre in der Versenkung verschwunden und plötzlich in Mabs Dunstkreis wieder aufgetaucht. Danach musste etwas Ungewöhnliches geschehen sein, denn das Nächste, was man wusste, war, dass es bei Hofe auf einmal verboten war, seinen Namen auszusprechen. Hy Pezhos einziges Vermächtnis, war, soweit Timha wusste, das Projekt. Der Einszorn-Stadtzerstörer. Und was für ein Vermächtnis das war! Ein Objekt nie da gewesener Eleganz und Stärke, der Inbegriff von Macht.
Wenn nur Hy Pezho hier wäre, um es ihnen zu erklären.
»Was soll ich tun?«, fragte Timha, gleichzeitig die Antwort fürchtend.
Müde sah Valmin von seinen Studien auf und deutete auf einen Bücherstapel, der ihm gegenüber auf dem Tisch lag. »Die Antwort steht irgendwo da drinnen«, seufzte er. »Findet sie.«
Draußen vor der Stadt schimmerte das Portal und spuckte alsdann zwei große hagere Gestalten in blauen Roben aus. Die Portalwachen zuckten ob ihres plötzlichen Erscheinens zusammen und griffen nach ihren Schwertern, ließen dann aber die Hände sinken, als sie die Roben erkannten.
Das Portalgewölbe stand auf einer einsamen felsigen Landzunge, die durch eine schmale lange Kalksteinbrücke mit der Geheimen Stadt verbunden war. Die Wachen, die hier Dienst taten, waren handverlesen und mussten vor allem die Disziplin aufbringen, nicht gen Himmel zu schauen.
Einer der Robenträger besaß eine Haut so blass wie Mondlicht. Der andere war so dunkel, dass seine Augen im leeren Raum zu glühen schienen. Die Wachen schauten beiseite. Es war nicht erlaubt, mit den Bel Zheret zu sprechen, es sei denn, sie richteten zuerst das Wort an einen. Davon abgesehen hatte keiner der Männer auch nur das geringste Bedürfnis nach einem Plausch mit ihnen.
Der blasse Bel Zheret hieß Hund. Sein Partner hörte auf den Namen Natter. Hund und Natter gingen Arm in Arm auf die Brücke zu. Sie waren guter Dinge.
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