Schattenspäher
kränklichen blauen Schein. Timha konnte sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal behaglich und warm gefühlt hatte.
Er verließ seine Kammer, ohne einen Blick aus dem Fenster zu werfen, an dem er auf seinem Weg durch den Gang vorbeikam. Er ging zur Treppe, hielt die Augen fest auf den Boden gerichtet und konzentrierte sich auf das uralte Fliesenmuster zu seinen Füßen. Verblasst und zersprungen war es, doch immer noch klar erkennbar; ein Zeuge der Vergangenheit. Man hatte Timha und seine Kollegen glauben lassen wollen, dass die Stadt noch vor dem Rauane Envedun-e, dem Zeitalter Reinsten Silbers, erbaut worden war. In jener Epoche also, da die Welt noch so von Magie durchdrungen gewesen war wie Sonnenlicht. Nun gut, die Stadt war also alt. Doch so alt musste sie nun auch wieder nicht sein, um Timha zu beeindrucken.
Timha erreichte die Treppe, ohne auch nur einmal den Kopf in Richtung der Fenster gedreht zu haben. Seltsam, wie sie doch den Blick auf sich zogen, auch wenn das, was dahinter lag, in höchstem Maße unerfreulich war. Es ging um den Himmel. Und den musste Timha heute nun wirklich nicht sehen. Schon gar nicht heute, wo seine Furcht so groß war, dass er meinte, seine Innereien müssten sich verflüssigen.
Nacht für Nacht vollführte »das Projekt« in seinen Träumen seinen diffizilen Reigen. Er konnte ihm nicht entkommen; sowohl in jedem Detail als auch in seiner ganzen Komplexität beanspruchte das Projekt jede wache Stunde wie auch seinen Schlaf. Nicht dass er dieser Tage viel schlief, geschweige denn gut.
Timha hatte alle Arbeitsschritte vor Augen, als er den Speisesaal betrat. Düster blickte er zu den anderen Reisenden und ihren Gehilfen hinüber. Sie wirkten entspannt, ausgeruht, ja sogar zufrieden, wie sie über ihr Frühstück gebeugt dasaßen, neben den Öfen, die nie genug Wärme abzustrahlen schienen. Und warum sollten sie auch nicht zufrieden sein? Jeder oder jede von ihnen trug einen kleinen Teil zur Gesamtheit des Projekts bei. Eine herausfordernde, lohnende Arbeit. Sie wussten, ihre Anwesenheit hier bedeutete, dass sie zu den besten und respektiertesten Thaumaturgen des Kaiserreichs zählten, möge es lang segeln. Sie wussten, sie konnten nach Abschluss ihrer Arbeit aus dem Dienst ausscheiden - wohlhabend und geachtet - und sich in einer Villa an den vorderen Liegeplätzen auf einer der feinsten Städte niederlassen, vielleicht sogar in der neuen Stadt Mab selbst.
Was sie nicht wussten, war das, was Timha jede Nacht den Angstschweiß auf die Stirn trieb, ihn jede Minute seines Tages schwindlig werden ließ. Man hatte den anderen dieses Wissen vorenthalten, weil es so besser für sie war.
»Morgen, Timha«, sagte Giaco, einer der Experten für Elemente und Leiter der Gruppe, die mit der Verbesserung der Außenschale befasst war. »Wie läuft's denn so im Herzen der Bestie?« Giaco und seine Leute standen sich sehr nahe, einige hatten an der gleichen Universität in einer der Flaggstädte gelehrt. Nun arbeiteten sie am Projekt ihres Lebens, hatten Zugang zu den besten Apparaturen und Gerätschaften, verfügten über grenzenlose Mittel und zahllose Helfer, die glücklich waren, ihnen zur Hand gehen zu dürfen.
Doch vor allem taten sie dies in Mabs Geheimer Stadt, dem geheiligsten Ort des gesamten Kaiserreichs. Die Geheime Stadt war Mabs Festung. Hier hatte sie ihre Kinder geboren und den Verlust ihres Mannes betrauert. Und hier hatte Beozho seine Werke verfasst.
Ja, Giaco und seine Freunde wähnten sich im Paradies.
Und Timha hasste sie dafür.
»Danke, wir machen gute Fortschritte«, sagte Timha nur. Er setzte sich an den Tisch, nahm ohne aufzusehen von einem Handlanger einen Tee entgegen und versuchte den Tanz zu ignorieren, der durch seinen Geist wirbelte. Wie schon so oft wurde ihm auch jetzt die grausame Ironie seiner Position schmerzhaft bewusst. Nicht, weil er ein armer Arbeiter oder seinen Kollegen intellektuell unterlegen wäre, sondern weil er in jeder Beziehung über ihnen stand. Meister Valmin persönlich hatte ihn unter seine Fittiche genommen und in die Kernmannschaft gebracht, hatte mit ihm die eher geheimen und tabuisierten Aspekte des Projekts erörtert. Ja, am Anfang, da waren sie alle begeistert gewesen, vor allem Timha. Es war die Stellung seines Lebens. Und obwohl er durchaus Vorbehalte hatte gegen den Einsatz von Schwarzer Kunst, hatte Valmin ihm versichert, dass dies alles einem höheren Zweck diene - dass das Böse durchaus für das Gute eingesetzt
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