Schattenspieler (German Edition)
klapprigen dreirädrigen Lieferwagen mitgenommen.
Wilhelm hatte ihnen nicht den Kopf abgerissen, sondern sofort
jemanden angerufen, der eine Patrouille zur Möbelfabrik
Best geschickt hatte. Eine halbe Stunde später war ein Rückruf
gekommen: Nein, in dem Stollen war noch nicht einmal
der Splitter einer Kiste aufgefunden worden. Nein, Tote oder
Verletzte hatten dort auch nicht gelegen, nur zwei Fahrräder
lehnten an der Mauer. Ein paar Stunden später hatte Generalmajor
Lyne höchstpersönlich mit einem ziemlich ungehaltenen
General Gorbatow telefoniert, der von einer nächtlichen
Aktion mit irgendwelchen Lastwagen im britischen Sektor
nichts wissen wollte. Das sei mal wieder eine der üblichen und
durchschaubaren Behauptungen, mit denen die Westalliierten
der Sowjetunion den Bruch der Verträge zu unterstellen versuchten
und über die bei der Eröffnungssitzung des Alliierten
Kontrollrates demnächst noch zu reden sein werde.
Im Anschluss an dieses Gespräch hatte Lyne allen Beteiligten
höchste Geheimhaltung befohlen. Was wirklich in diesem
Stollen gelegen hatte, wussten kaum ein halbes Dutzend
Personen. Leo und Friedrich hatten ein Rätsel gelöst und ein
neues hatte sich aufgetan. Und jetzt durften sie noch nicht
einmal darüber reden. Wilhelm wandte sich wieder der Suche
nach verschollenen Kunstwerken zu. Leutnant Hunt tauchte
noch am selben Tag auf und wusste von nichts. Kugler hatte
er auf Empfehlung von Parks angefordert. Der Major blieb
verschwunden. Offiziell galt er als vermisst, genauso wie Sommerbier.
Weitere heiße und sonnige Tage zogen dahin. Der Sommer
geht ohne Bier weiter, witzelte Friedrich. Ein ganz normaler
Sommer: Besuche im inzwischen wieder eröffneten
Zoo, Ausflüge mit dem Fahrrad, Baden im Wannsee und die
Aussicht, dass die Schule nach den Ferien, wenn man das so
nennen konnte, beginnen würde und sie in zwei Jahren Abitur
machen konnten. Leo durfte weiter bei der Familie Häck
wohnen, schließlich war die Villa groß genug für sie alle und
er war für Friedrich inzwischen fast so etwas wie ein Bruder
geworden.
Und als sie gerade dazu übergegangen waren, nicht mehr
von morgens bis abends zu spekulieren und zu mutmaßen,
was nun mit dem Bernsteinzimmer geschehen sein mochte,
da klingelte es wieder an der Tür.
Es war Sirinow. Seine Uniform sah sauberer und glatter
gebügelt aus als sonst und er trug eine Aktentasche.
»Ich wollte mich verabschieden. Es geht wieder nach Moskau«, sagte er. Friedrich bat ihn herein.
Und dann saßen sie noch einmal mit dem Oberst am
Wohnzimmertisch.
»Ich habe etwas für Marlene«, sagte er. »Es klingt vielleicht
ein bisschen sentimental, aber sie hat mich in Berlin mit Beethoven
empfangen. Und da will ich mich von ihr mit Beethoven
verabschieden.«
Friedrich rief nach Marlene, die in der Küche ihrer Mutter
half. Sie trat ins Zimmer, Sirinow stand auf und drückte ihr
die Hand.
»Für dich«, sagte er nur, griff in seine Aktentasche und
holte eine dünne dunkelblaue Mappe hervor. Leo und Friedrich
machten lange Hälse. Marlene schlug das Deckblatt auf.
Notenlinien wurden sichtbar, filziges, vergilbtes Papier mit
schwarzbrauner Tinte beschriftet und mit unleserlichen Anmerkungen
an den Rändern versehen. Marlene tastete über
die erste Seite und blätterte weiter. Hinter der kurzen Partitur
waren weitere Blätter eingelegt. Leo erkannte die Notenschrift
für Blinde, die er bei Marlene ab und zu gesehen hatte. Marlene
fuhr mit dem Finger über das Papier und lächelte.
»Beethoven«, sagte Sirinow.
»Die Noten kenne ich gar nicht«, antwortete Marlene verwundert.
»Kannst du auch nicht kennen«, sagte Sirinow. »Das ist das
unveröffentlichte Manuskript einer Klaviersonate. Wir haben
es bei einem Sammler entdeckt, der … der jetzt andere Probleme
hat. Es war nicht ganz einfach, jemanden zu finden, der
das in Blindenschrift setzen konnte. Aber so viele Dinge sind
nicht einfach zu finden. Und dann tauchen sie auf einmal auf
wie aus dem Nichts.«
»Danke«, sagte Marlene nur und verschwand schnell nach
oben zu ihrem Klavier. Sie sah sehr glücklich aus.
Sirinow lächelte ihnen geheimnisvoll zu. Und da wusste
Leo, was er und Friedrich vorher schon geahnt hatten: Der
Oberst war es gewesen, der in jener Nacht den Jeep gefahren
und sie zu Hause abgeliefert hatte.
»Wo ist es jetzt?«, fragte Friedrich ohne Umschweife. Er versuchte,
lässig zu wirken. Leo kam sich vor wie in einem Film,
in dem Unterweltbosse in verqualmten Hinterzimmern um
die
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