Schattenspieler (German Edition)
überhaupt in dieser Stellung aushalten?
Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell.
Auf der Straße waren Schritte zu hören, ein metallisches
Klicken, ein paar geflüsterte Kommandos. Einige Augenblicke
vergingen, in denen gar nichts passierte, dann schrie plötzlich
jemand etwas, und unmittelbar darauf knallten kurz hintereinander
mehrere Schüsse durch die Nacht. Noch ein Schrei,
eine Maschinenpistole ratterte kurz, dann wieder ein Zuruf
und eine knappe Antwort. Leo traute seinen Ohren kaum.
Das war Russisch.
In der Ferne wurden zwei schwere Motoren angelassen,
deren Geräusch sich langsam näherte und zum Dröhnen anschwoll,
als etwas vorbeirollte und offenbar in die Einfahrt
einbog. Kurz darauf erstarben die Motoren und Leo hörte
gedämpftes Klappen von Türen. Was in aller Welt ging da vor
sich? Er stöhnte wieder und Friedrich antwortete. Wenn man
sich doch bloß verständigen könnte, dachte Leo.
Jetzt näherte sich jemand dem Jeep. Die Fahrertür wurde
geöffnet, der Wagen wippte einmal kurz, dann klappte die
Tür wieder zu. Ein Streichholz wurde angerissen, kurz darauf
wehte Tabakrauch in Leos Nase. Jemand saß am Steuer und
wartete. Aber wer? Sommerbier? Einer von den Russen? Wer
hatte da wen überrumpelt?
Ein Beben ging durch die Sitze, als der Wagen angelassen
wurde. Leo und Friedrich wurden hin und her geschüttelt
und stießen in jeder Kurve mit den Köpfen aneinander. Leos
Hände waren inzwischen völlig gefühllos und die Taubheit
schlich an den Armen hoch zu den Schultern. Das Brennen
breitete sich über den ganzen Rücken aus.
Er versuchte anhand der Kurven abzuschätzen, wo sie hinfuhren,
gab es aber bald auf.
Die Fahrt dauerte lange, jedenfalls kam es Leo vor, als müssten
sie die Stadt längst hinter sich gelassen haben. Er dachte
an ihre Fahrten zum Zoo und zum Wannsee. Alles war gut
gewesen. Warum hatte er sich bloß auf Friedrichs wahnwitzige
Idee eingelassen? Wahrscheinlich endete sein Leben jetzt
da, wo es zum ersten Mal unbeschwert gewesen war: in einem
sommerlichen Badesee, mit Friedrich an seiner Seite. Verzweifelt
riss er an den Fesseln, aber die Kabel bewegten sich keinen
Millimeter. Der Widerstand schürte eher noch seine Panik,
und er gab es auf, während sie weiterschaukelten.
Irgendwann kam der Wagen tatsächlich zum Stehen, ohne
dass der Motor abgeschaltet wurde. Wieder klappte die Fahrertür
auf, wieder wurde Leo hochgewuchtet, über einen harten
Boden geschleift und abgesetzt, in sitzender Stellung diesmal,
mit dem schmerzenden Rücken an eine Mauer gelehnt. Im
Hintergrund rasselte der Motor. Dann sackte neben ihm ein
weiterer Körper zu Boden. Friedrichs Stöhnen war zu hören.
Und dann geschah etwas Seltsames.
Jemand schob Leos Oberkörper leicht nach vorn und
machte sich hinter seinem Rücken zu schaffen. Er hörte ein
knipsendes Geräusch, bevor er wieder angelehnt wurde. Kurz
darauf knipste es noch einmal. Dann entfernten sich Schritte,
der Motor heulte auf und der Jeep entschwand in der Ferne.
Leo ruckte an den Fesseln. Und tatsächlich – diesmal gab
das Kabel ein paar Millimeter nach. Er zog fester, riss schließlich,
während das Gefühl langsam und kribbelnd in seine
Hände zurückkehrte. Bald hatte er die Arme frei und konnte
sich den Knebel aus dem Mund zerren. Ein wohltuender Luftstrom
fuhr in seine Lungen, während er sich die Augenbinde
abstreifte.
Er traute seinen Augen kaum.
Kein See.
Er saß von innen an die Mauer eines Vorgartens gelehnt.
Neben ihm befreite sich Friedrich gerade von seiner Augenbinde.
Man hatte sie in der Ebereschenallee 9 abgesetzt.
Ein paar Tage später waren die Schmerzen im Rücken verschwunden
wie der letzte Beweis dafür, dass alles, was sie in
den vergangenen Wochen erlebt hatten, wirklich passiert war.
Sie waren ebenso erleichtert wie ratlos auf tauben, schmerzenden
Beinen ins Haus getaumelt, wo Friedrichs Mutter,
die vom Motorengeräusch vor der Haustür geweckt worden
war, sie noch in der Eingangshalle erwischt hatte. Schließlich
hatten sie ihr im Wohnzimmer, so knapp das eben möglich
gewesen war, die ganze Geschichte erzählt. Als sie mit ihrem
Bericht fertig waren, hatte Frau Häck, die sonst nie trank, drei
Gläser Cognac geleert. Draußen dämmerte es bereits.
Trotz der Schmerzen waren sie viel zu aufgekratzt gewesen,
um ins Bett zu gehen. Mit den ersten Sonnenstrahlen waren
sie zu Wilhelms Unterkunft in einer Wilmersdorfer Wohnung
aufgebrochen. Glücklicherweise hatte sie ein Milchfahrer mit
einem
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