Schattenspieler (German Edition)
Aufteilung der Stadt schacherten.
Sirinow lächelte sein feines Lächeln.
»Sie wissen doch, wo das Bernsteinzimmer ist«, hakte Friedrich
nach.
»Natürlich weiß ich das«, sagte Sirinow. »Und dort wird es
lange bleiben.«
»Sie waren die ganze Zeit schon hinter Sommerbier her,
oder?«, fragte Leo. Er dachte daran, wie Sirinow ihn bei ihrem
Gespräch auf dem Gehöft nach Sommerbier gefragt hatte.
»Ja«, sagte Sirinow. »Aber wir haben seine Spur verloren,
nachdem unser Informant verschwunden ist. Das war wahrscheinlich
der Mann, der in diesem Jagdschloss aus dem Keller
gestiegen ist. Wir sind viel zu spät hinter die Geschichte
mit der Firma gekommen.«
»Was ist denn mit Sommerbier passiert?«, fragte Friedrich.
»Sagen wir mal, die Briten können ihn von der Liste der
Gesuchten streichen. Und Parks von der Liste der Vermissten.«
Von oben perlten die ersten zögerlichen Töne des Klaviers
hinunter.
»Lasst uns raufgehen«, sagte Sirinow. »Ich würde mir das
gern anhören. Das ist ein Stück, das vielleicht zum letzten Mal
vor hundertfünfzig Jahren gespielt wurde.«
Sie gingen nach oben. Marlene saß am Klavier und übte ein
paar Passagen, die sie sich offenbar eingeprägt hatte und die
sich zu einer ersten Melodie formten, eine langsame, romantische
Sonate. Zwischendurch nahm sie das Blatt zur Hand und
ließ den Finger über die Zeilen gleiten, dann wiederholte sie
einzelne Abschnitte. Es dauerte eine Viertelstunde, dann war
sie so weit. Sie setzte an und spielte die kurze Sonate in einem
durch. Es klang nachdenklich, aber nicht melancholisch, zart,
aber nicht zerbrechlich.
Als sie geendet hatte, drehte sie sich auf dem Hocker um
wie beim ersten Mal, als Leo sie gesehen hatte. Damals hatte
er sich erschrocken. Jetzt kam ihm der Anblick ihres kleinen
Gesichts ganz natürlich vor.
Sirinow applaudierte. »Meine Freunde, das war wieder mal
eine wundervolle kleine Vorstellung«, sagte er. »Aber jetzt muss
ich gehen. Mein Flugzeug startet heute noch.«
Sie begleiteten ihn nach unten. Als er sich in der Haustür
noch einmal umdrehte, lag ein Hauch von Traurigkeit auf
seinem Gesicht. Im nächsten Augenblick war der Eindruck
schon wieder verblasst.
»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte Leo.
»Ich weiß nicht, wann«, sagte Sirinow, während er die Freitreppe
hinunterstieg. »Aber verlass dich drauf, dass es noch in
diesem Leben sein wird.«
Leo spürte, wie seine Augen feucht wurden.
Am Gartentor drehte sich der Oberst noch einmal um und
gab ihm die Hand. »Alles Gute für deine Zukunft, Joschek.«
Dann ging er zu seinem Jeep, stieg ein, ließ den Motor an
und entschwand. Leo blickte ihm noch eine Weile nachdenklich
hinterher, dann kehrte er zurück ins Haus.
»Das musst du dir ansehen«, sagte Friedrich, der in der
Tür zwischen Eingangshalle und Wohnzimmer stand. »Das
glaubst du nicht!«
Leo folgte seinem Freund ins Zimmer. Auf dem Tisch lag
etwas Oranges. Etwas, was Sirinow dagelassen hatte. Ein Abschiedsgeschenk.
Als Leo sah, was es war, musste er lachen. Es hatte Sirinow
als Kunstliebhaber wohl einige Überwindung gekostet, es aus
seiner natürlichen Umgebung zu lösen, aber er hatte es getan:
ein kleines Gesicht aus Bernstein – eins der fein geschnittenen
und polierten Reliefs, die auf die Vertäfelung aufgesetzt
gewesen waren, zusammen mit Girlanden, Blüten und
Trauben. Da lag es nun auf einem Wohnzimmertisch in der
Ebereschenallee, während das grandiose Ensemble, zu dem es
gehörte, sich wahrscheinlich schon auf dem Weg nach Moskau
oder Leningrad befand, um Generationen von Kunstfreunden
aus dem geheim gehaltenen Exil heraus seine Rätsel
zu diktieren.
Von oben wehte wieder die Melodie herunter. Und Leo
spürte: Hier war nichts zu Ende. Hier fing etwas an.
Die Geschichte um Leo, Friedrich, Marlene und Wilhelm ist
natürlich ausgedacht. Es hat diese Helden nicht gegeben, so
wie auch Sommerbier, Mackensen, Sirinow, Parks und die
anderen Gestalten, die dieses Buch bevölkern, erfunden sind.
Aber das Berlin des Frühlings 1945 hat es gegeben, genauso
wie die Trümmer, über die am 20. April die letzte Geburtstagsansprache
des Propagandaministers Goebbels für seinen
Führer Adolf Hitler wehte. Es hat die täglichen Bombenangriffe
gegeben, die Luftschutzkeller und die Menschen, die
sich darin voller Angst drängelten, die Fanatiker, die in den
letzten Kriegstagen in ihrem Wahn noch Durchhalteparolen
an die Hauswände schrieben, und die schweigende Masse,
die kein Wort mehr davon
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