Schattenspieler (German Edition)
hinterherzufahren, beunruhigte ihn. Denn
es bedeutete, dass noch mehr Leute darüber im Bilde waren,
was er hier durch das untergehende Reich kutschierte. Wenn
er Glück hatte, würden die Russen die beiden Toten finden
und in irgendein Erdloch werfen. Wenn er Pech hatte, zog
die Sache Kreise, und irgendjemand zählte eins und eins zusammen.
Was soll's, dachte er, während er vor dem Posten
zum Stillstand kam. Berlin ist groß genug. Aber eine leichte
nagende Unruhe blieb.
Die Straßensperre war genauso lächerlich wie die Soldaten,
die sie bewachten: ein Dutzend kraftloser alter Männer und
ein paar Schulkinder in HJ-Uniformen, die mit wichtigtuerischen
Gesichtern herumstanden. Der Unteroffizier an der
Durchfahrt war der Einzige, der überhaupt so aussah, als hätte
er in seinem Leben schon einmal ein Gewehr richtig herum
gehalten.
Sommerbier deutete einen Gruß an und reichte die Papiere
heraus. Der Soldat studierte sie so lange, dass Sommerbier
schon wieder nervös wurde. In Gedanken spielte er durch,
was er machen würde, falls der andere die Ladung kontrollieren
wollte.
»Kann ich einen Blick auf die Ladefläche werfen?«
Verdammt. Sommerbier zwang sich, ruhig zu bleiben. »Sie
können sich denken, dass ich wenig Zeit habe«, sagte er und
fixierte den anderen von oben.
»Und Sie können sich denken, dass ich meine Befehle zu
befolgen habe, Herr Hauptsturmführer.«
Sommerbier seufzte und rang sich ein dünnes Lächeln ab.
»Kann ich mir denken, ja«, sagte er, öffnete die Tür und
schwang sich vom Fahrersitz.
Unter den neugierigen Blicken der kleinen Wichtigtuer
gingen sie zum Heck des Lastwagens. Sommerbier schnallte
die Plane auf und schlug sie hoch. Im Halbdunkel der Ladefläche
waren die vernagelten und sauber gestapelten Holzkisten
zu erkennen. Der Soldat musterte sie eine Weile, während
Sommerbier sich umblickte. Sie standen auf einem Platz, von
dem vier Straßen abgingen. Alle waren mit Straßenbahnwagen
verbarrikadiert, die bis unter die zerborstenen Fenster
mit Trümmern angefüllt waren. Hier und da waren verblasste
Werbesprüche zu sehen. Ein aufgeklebtes Plakat forderte zum
Volksopfer auf. Was für ein Scheiß, dachte Sommerbier.
Der Soldat stieg nun zu allem Überfluss auf die Anhängerkupplung
und beugte sich hinein. Sommerbier widerstand
der Versuchung, ihn mit einem Stoß auf die Ladefläche zu
befördern und einfach loszufahren. Die Hitlerjungen glotzten
immer noch.
Schließlich sprang der Unteroffizier von der Kupplung und
reichte Sommerbier die Papiere zurück. »Sie können weiterfahren.«
»Danke«, sagte Sommerbier mit einem herablassenden Unterton
und salutierte. Der andere stand stramm.
Er fuhr weiter durch die zerstörte Stadt, dabei kam ihm eine
schmissige Melodie in den Sinn. Er brauchte einen Moment,
bis er erkannte, welches Lied es war, dann brummte er es leise
vor sich hin: »Davon geht die Welt nicht unter, sieht man
sie manchmal auch grau.« Auf einmal musste er lachen. Das
Gesicht von Zarah Leander erschien vor seinem inneren Auge.
Er hatte Glück und fand auf Anhieb eine intakte Brücke
über die Spree. Auf der anderen Seite war eine Gruppe von Arbeitern
damit beschäftigt, einen Bombentrichter zuzuschütten.
Ein feister Kerl in Parteiuniform stand daneben und beaufsichtigte
das Ganze. Das passt zu euch Knallköpfen, dachte
Sommerbier. Bloß nie selber die Schaufel anfassen. Jedenfalls
war das keiner, der ihm Schwierigkeiten machen würde. Diese
Sorte trat immer nur nach unten.
»Heil Hitler, Herr Kreisleiter«, sagte Sommerbier jovial und
beugte sich aus dem Fenster. Der Dicke knallte die Hacken zusammen.
Die gönnerhafte Beförderung schien ihm zu schmeicheln.
Jeder, der nur ein bisschen Verstand hatte, hätte sich auf
den Arm genommen gefühlt. Der hier offenbar nicht.
»Ich brauche zwei Leute für einen Sonderauftrag«, sagte
Sommerbier.
Der andere nickte zackig und wandte sich an die Arbeiter.
»Ihr habt's gehört«, rief er. »Zwei Mann mit dem Hauptsturmführer.
Aber zügig!« Er wandte sich mit einem selbstgefälligen
Grinsen an Sommerbier. »Sie wissen ja, wie man mit denen
reden muss.« Und wieder zu den Arbeitern: »Wird's bald! Du
und du! Abmarsch!«
Zwei unrasierte, bleiche Männer lösten sich aus der Gruppe,
gingen zur Beifahrertür und stiegen lethargisch ein. Auf ihren
dunklen Jacken leuchtete ein aufgenähtes blaues Quadrat mit
der Aufschrift OST . Zwangsarbeiter aus Polen oder der Ukraine.
Sommerbier nickte dem Dicken zu und fuhr an.
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