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Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Michael Römling
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überlegen, ob er nachhaken sollte, dann entschied er sich
dagegen. Das Schlimmste nicht gleich zu Anfang, dachte Leo.
Wie taktvoll.
    Sirinow zog an seiner Zigarette.
    »Wo hast du dich die ganze Zeit über versteckt?«, fragte er
schließlich.
    Leo setzte sich und überlegte eine Weile, wo er beginnen
sollte. Im Hintergrund spielte das Orchester weiter unverdrossen
seine Symphonie. Schließlich stand Sirinow auf und nahm
die Nadel von der Platte. Es wurde still im Raum.
    Und dann begann Leo zu erzählen, von der Pianofabrik
Bamberger & Sohn, vom alten Bamberger, der seine Eltern
und ihn zusammen mit ein paar anderen Juden in seinem
Keller versteckt hatte, nachdem der Brief von der Gestapo gekommen
war. Leo redete und redete, als berichtete er über
das Leben von jemand anderem. Von Wilhelm, einem guten
Freund von Bamberger, der Lebensmittel und falsche Papiere
besorgt hatte, damit sie sich draußen bewegen konnten, auch
wenn sie das immer seltener wagten. Von der ständigen Angst,
dass jemand sie in der Fabrik oder auf dem Gelände entdeckte
und an die Nazis verriet. Von dem Tag, an dem Wilhelm auf
der Straße neben ihm gebremst, ihn ins Auto gezogen und
ohne ein Wort in seine Wohnung gebracht hatte. Von der
Ungewissheit der ersten Wochen. Und davon, dass Wilhelm
ihm eines Abends am Küchentisch erklärt hatte, dass seine
Eltern nach der Verhaftung Selbstmord begangen hatten, mit
Giftkapseln, die sie offenbar irgendwo am Körper versteckt
und die sie ihm, Leo, verschwiegen hatten. Von Wilhelms Bemühungen,
ihm das Leben in der Abgeschiedenheit der letzten
intakten Wohnung in einem ausgebombten Straßenzug
erträglicher zu machen. Von Wilhelms Verschwinden. Und
schließlich von der nächtlichen Flucht durch die Ruinenstadt.
Als Leo von der merkwürdigen Begebenheit der letzten Nacht
erzählte, huschte so etwas wie überraschte Neugier über Sirinows
Gesicht.
    »Sommerbier«, sagte Sirinow langsam. »Würdest du den
wiedererkennen?«
    »Nein«, sagte Leo. »Ich habe ihn nur von hinten gesehen.
Er war ziemlich groß. Warum fragen Sie? Kennen Sie ihn?«
    Sirinow schüttelte nur langsam den Kopf. »Gestern habe ich
eine Meldung bekommen. Ein paar von unseren Leuten haben
in dem Schloss die beiden Toten gefunden. Wir haben uns
gefragt, wie sie umgekommen sind. Es gab dort keine Kämpfe.
Aber wenn wir uns mit jeder Leiche beschäftigen würden, die
in diesen Tagen hier herumliegt, dann wären wir nächstes Jahr
noch nicht in Berlin.«
    »Es hörte sich an, als ginge es um etwas ungeheuer Wichtiges.«
    »Wenn schon«, sagte Sirinow finster. »Was diesen Leuten
wichtig ist, wird es in einem Monat nicht mehr geben.«
    Er drückte seine Zigarette in einem vollgestopften Aschenbecher
aus und schaute aus dem Fenster. Von draußen drangen
durcheinanderschreiende Stimmen herein.
    »Wir brechen morgen auf nach Berlin«, sagte der Oberst, als
wollte er das Thema wechseln, obwohl Leo das Gefühl hatte,
dass er gern noch mehr gewusst hätte.
    »Und ich?«, fragte Leo. Plötzlich fühlte er sich unsicher. Das
Geschrei auf dem Hof wurde lauter.
    »Du kommst mit«, sagte Sirinow, stand auf und blickte hinaus.
»Kennst du noch jemanden in Berlin?«
    »Nein«, sagte Leo. Auf einmal wurde ihm klar, wie allein er
eigentlich war. Schon in den Jahren vor dem Untertauchen
hatte er gelernt, dass es besser war, niemandem zu trauen. Es
war vorgekommen, dass andere Kinder ihn auf der Straße beleidigt
und herumgeschubst hatten. Als seine Schule geschlossen
wurde, hatten seine letzten Freunde sich zerstreut. Jede
Familie war mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen.
Seit er den Stern tragen musste, waren die Übergriffe auf der
Straße merkwürdigerweise seltener geworden. Aber das hatte
es kaum besser gemacht, denn nun schien jeder plötzlich Angst
zu haben, überhaupt noch mit ihm gesehen zu werden. Die
Leute hatten weggeschaut und hier und da war Mitleid aufgeblitzt.
Doch aus Mitleid entstanden keine Freundschaften.
Außer Wilhelm hatte er keine Freunde. So einfach war das.
    Das Stimmengewirr auf dem Hof war zum Tumult angeschwollen.
Sirinows Adjutant, der milchgesichtige Tarassow,
erschien in der Tür und sagte etwas. Er klang aufgeregt. Sirinow
nickte und verließ den Raum. Leo folgte ihm. Draußen
stand die Sonne schon tief und warf die letzten Strahlen auf das
inzwischen ziemlich mitgenommene rosafarbene Sofa.
    Aber niemand saß dort. Auf der anderen Seite des Hofes
hatte ein Pulk von Soldaten einen Halbkreis um zwei

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