Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Michael Römling
Vom Netzwerk:
Drehung
in der Luft machte und scheppernd neben ihm aufschlug.
Die Männer applaudierten und warfen die Mützen in
die Luft, keiner schien auch nur auf den Gedanken zu kommen,
dass Wassilij sich gerade sämtliche Knochen gebrochen
haben könnte.
    Das war zum Glück auch nicht passiert. Er rappelte sich
auf, rieb sich die Ellbogen, betrachtete seine aufgeschürften
Hände und grinste in die Runde. Dann riss er das Fahrrad
hoch und gab ihm einen Schubs, dass es ein paar Meter taumelnd
auf das Spalier der Soldaten zurollte; ein anderer fing
es auf, schwang sich in den Sattel und eierte los.
    Leo grinste. Seit drei Tagen lagerten sie schon in dem verlassenen
Dorf und warteten darauf, dass es weiterging. Kolonnen
von Fahrzeugen hatten den Ort passiert und waren weitergefahren.
Panzer, Lastwagen, Raketenwerfer, Zugmaschinen mit
Geschützen und immer wieder von Pferden gezogene Packwagen.
    Leo hieß bei ihnen nur noch Joschek. Seine Geschichte hatte
natürlich sofort die Runde in der ganzen Kompanie gemacht
und schon am Abend des ersten Tages war er so eine Art Maskottchen
geworden. Einer versuchte, ihm das Ziehharmonikaspielen
beizubringen, ein anderer das Autofahren und ständig
wollten sie ihm alles Mögliche einflößen. Natürlich hießen sie
nicht alle Iwan. Neben Wassilij gab es zwei Anatols, einen Jurij,
zwei Pjotrs, drei Mischas, einen Ljoscha, einen Konstantin,
einen Andrej und ein paar Dutzend weitere. Der Mongole, der
den Schinken gebracht hatte, war gar kein Mongole, sondern
Kasache und hieß Abai. Und dann gab es noch Fjodor, einen
furchtbar ausgemergelten Kerl mit wachen Augen, den alle
nur Koschka nannten, die Katze. Koschka sprach ziemlich gut
Deutsch. Über die Gründe schwieg er sich aus.
    Sie hatten Leo ein eigenes Zimmer mit Federbett in einem
der beschlagnahmten Häuser gegeben. Die anderen verteilten
sich auf die übrigen Räume oder schliefen draußen auf Matratzen,
die sie aus den Fenstern geworfen hatten. Die ersten
Tage in Freiheit waren Leo so unwirklich vorgekommen, dass
er sie tatsächlich hatte genießen können, ohne sich den Kopf
über seine Zukunft zu zerbrechen. Er hatte keine Ahnung,
was jetzt aus ihm werden sollte.
    Nicht ein einziger Deutscher ließ sich blicken, und Leo
fragte sich, wohin die Einwohner wohl geflohen waren und
wer in aller Welt die Glocke geläutet hatte, als er am Morgen
nach seiner Flucht aus dem Schlaf geholt worden war. Oder
hatte er das nur geträumt? Alle Häuser im Ort waren besetzt,
auch die Kirche, in der sich jetzt Munitionskisten und Säcke
mit Pferdefutter stapelten.
    Am Abend des dritten Tages ließ ihn der blonde Offizier,
von dem Leo inzwischen wusste, dass er Oberst war und Sirinow
hieß, in das verrauchte Zimmer rufen, in dem sie zum
ersten Mal zusammengetroffen waren. Leo hatte zwei oder
drei Mal ein paar Worte mit Sirinow gewechselt, aber der war
immer in Eile gewesen, weil ständig irgendwelche hohen Offiziere
vorgefahren kamen, die offenbar wichtige Besprechungen
abzuhalten hatten. Berlin war völlig eingeschlossen, so
viel hatte Leo mitbekommen. In ein paar Wochen würde der
ganze Krieg vorbei sein. Und dann würde sich auch die Frage
nach dem, was danach kommen sollte, nicht mehr aufschieben
lassen.
    Leo trat ein. Sirinow saß an dem großen Esstisch, auf dem
vorher die Karten gelegen hatten, und blätterte rauchend ein
paar Dokumente durch. Im Hintergrund rauschte ein Grammophon,
dann stelzten Geigenklänge durch den Raum, denen
ein paar tiefere Streicher einen sachten Takt vorgaben. Die Melodie
begann etwas förmlich, als probierten die Instrumente
aus, ob sie miteinander auskommen könnten oder nicht. Die
Violinen schienen höfliche Fragen zu stellen, auf die die Celli
zunächst nur mit strengem Kopfnicken antworteten. Dann
kam ein spielerischer Unterton in das Zwiegespräch.
    Leo war noch nicht einmal sicher, ob Sirinow gehört hatte,
dass er eingetreten war.
    »Haydn?«, riet Leo, um etwas zu sagen.
    »Exakt«, gab der Oberst zurück. »Erste Symphonie, zweiter
Satz.«
    Leo glaubte sich zu erinnern. Sein Vater hatte ihm als Kind
viele Platten vorgespielt oder sich selbst ans Klavier gesetzt.
Dann hatten sie das Grammophon abgeben müssen. Und als
sie aus der Wohnung ausziehen mussten, war auch das Klavier
weg gewesen.
    »Du kennst dich aus.« Sirinow legte die Papiere weg und
wies auf einen der herumstehenden Stühle.
    »Mein Vater war Klavierbauer«, sagte Leo und setzte sich.
    »War Klavierbauer«, wiederholte Sirinow. Er schien kurz
zu

Weitere Kostenlose Bücher