Schattenspieler (German Edition)
Ruinen
zogen vorbei. Die Wohngebiete wichen einem weiträumigen
Areal mit Industrieanlagen, die jetzt zum größten Teil zerstört
waren. Nach wenigen Minuten erreichte der Lkw eine Werkseinfahrt
mit der Aufschrift Möbelfabrik Best. Das Areal war
von einer hohen Mauer umgeben. Sommerbier stieg aus und
öffnete das eiserne Tor. Dann fuhr er zum hinteren Teil des
Geländes, wo ein zweistöckiges, noch halbwegs intaktes Verwaltungsgebäude
an eine völlig verwüstete Werkshalle angebaut
war. Direkt neben dem Anbau führte eine Treppe in die
Erde: der Luftschutzstollen, der gleich zu Anfang des Krieges
angelegt, aber dann nie benutzt worden war, weil die Fabrik
bei einem der ersten großen Luftangriffe auf Berlin gleich ein
paar Volltreffer abbekommen hatte und nicht wieder aufgebaut
worden war. Kein kriegswichtiger Betrieb. Im Übrigen
waren neue Möbel wirklich das Allerletzte, für das die Berliner
in den vergangenen Jahren Geld übrig hatten.
Sommerbier stieg die Stufen hinab und öffnete die Stahltür
zum Stollen. Auf den ersten Blick wirkte der Bunker wie
ein Labyrinth. Aber es gab keine Abzweigungen, sondern nur
einen zickzackförmigen Gang, der sich, zweimal rechts, zweimal
links, in Form einer eckigen Schlangenlinie durch den
Boden unter der ehemaligen Verladerampe fraß.
Sommerbier tastete nach dem Lichtschalter. Ein paar Glühlampen
flammten auf und beleuchteten feuchten grauen
Beton, einen Stapel Bretter und zwei Rollwagen für den
Transport schwerer Lasten. Es würde nicht ganz einfach sein,
die langen Kisten um die Ecken zu bugsieren, aber irgendwie
musste es gehen. Er lief einmal bis zum Ende des Ganges, wo
ein Stapel Mauerziegel lag und außerdem alles, was man zum
Anrühren von Mörtel und Putz brauchte. Wie viel Arbeit das
gewesen war, das ganze Zeug zu besorgen und hierherzuschaffen.
Aber der Plan war genial.
»Dann mal los«, sagte er zu sich selbst, ging zurück und stieg
wieder ans Tageslicht. Die Arbeiter hatten sich nicht getraut
auszusteigen. Sommerbier parkte den Lastwagen so, dass das
Heck genau vor der Treppe zum Stehen kam. Dann erklärte er
den beiden, was sie zu tun hatten.
Die Kisten waren so schwer, dass die Arbeiter sie nicht hochheben
konnten. Mit unendlicher Anstrengung schoben und
wuchteten sie den ersten Koloss von der Ladefläche, ließen ihn
über eine Rutsche aus Brettern die Treppe hinab auf die Rollwagen
gleiten und zerrten sie durch den Gang. Es würde einige
Stunden dauern. Und dann noch das Einmauern. Wahrscheinlich
wären sie bis zum nächsten Morgen beschäftigt.
Nachdem er das Abladen der ersten beiden Kisten beaufsichtigt
hatte, ließ Sommerbier die Arbeiter allein und betrat
das Verwaltungsgebäude. In den verwaisten Büros standen,
von dicken Staubschichten bedeckt, noch die Schreibtische
und Aktenschränke, sonst nichts, bis auf den Tresor im letzten
Raum am Ende des Ganges – dem Büro des Geschäftsführers,
seinem alten Arbeitsplatz.
Er öffnete den Tresor mit der Zahlenkombination. Er
enthielt sauber zusammengelegte Kleidung, ein Paar Schuhe
und einen Umschlag mit neuen Papieren. Endlich würde er
diesen Namen los, den sich jeder merken konnte. Am Anfang
war das vielleicht von Vorteil gewesen, aber bald würde man
hierzulande mit einem Allerweltsnamen besser bedient sein.
Sommerbier ließ sich in den völlig verstaubten Sessel fallen
und ging noch einmal seinen Plan in allen Einzelheiten durch.
Die Gewissheit, dass er von nun an alles allein in der Hand
hatte, verlieh ihm ein berauschendes Gefühl von Allmacht.
Sein Plan und seine Beute. Und wenn er die beiden armen
Teufel da unten nach getaner Arbeit erledigt hatte, würde es
keinen einzigen Zeugen mehr geben. Und dann würde seine
Verwandlung beginnen.
Zwei Dutzend Zuschauer schrien sich lachend und grölend
die Seele aus dem Leib, während Wassilij, der Soldat, der Leo
am ersten Tag in dem Schuppen aufgestöbert hatte, seine wackeligen
Runden auf einem Fahrrad drehte, das er in einer
benachbarten Scheune gefunden hatte. Er wurde langsam sicherer,
aber im gleichen Maß stieg seine Tollkühnheit und
er trat immer schneller in die Pedale. Dann ließ er zu allem
Überfluss auch noch den Lenker los, warf die Hände im Triumph
in die Höhe und blickte sich johlend um.
Natürlich sah er das Schlagloch nicht. Unter dem Jubel der
Umstehenden bohrte sich der Vorderreifen in den Boden, der
Lenker schlug zur Seite und Wassilij segelte im hohen Bogen
auf die festgestampfte Erde, während das Fahrrad eine
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