Schattenspieler (German Edition)
gelacht. Es entspann sich eine Diskussion,
in der sich, so viel konnte Leo verstehen, zwei Lager
bildeten. Plötzlich schien einem älteren Offizier etwas aufzufallen.
Er löste sich aus der Gruppe, ging auf Leo zu und zeigte
auf eine Stelle an seiner Jacke, dicht unter dem Herzen. Der
Stern, dachte Leo. Da hatte der Stern gesessen. Der verfluchte
Stern, den Wilhelm eigenhändig mit einer Nagelschere abgetrennt
und in einem Aschenbecher verbrannt hatte. Er
schielte an sich herunter, während der Alte mit dem Bart auf
den Blonden einredete, der jetzt die Augen zusammenkniff,
Leos Jacke aufknöpfte und das Innenfutter überprüfte. Die
Stiche der handtellergroßen, sechseckig gezackten Naht zeichneten
sich deutlich auf dem dunkelgrau glänzenden Stoff ab.
Leo hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass diese Naht ihn
immer noch hätte verraten können.
Der blonde Offizier sagte abermals etwas auf Russisch zu
den anderen. Und wieder setzte er damit eine lebhafte Diskussion
in Gang, bis er sie durch eine unwirsche Handbewegung
zum Schweigen brachte.
»Ein U-Boot«, stellte er fest. »Es gibt euch also wirklich?«
»Ja«, sagte Leo. Ein U-Boot. Den Ausdruck kannte er von
Wilhelm. So nannten sich Leute wie er, die, versteckt in Kellern
und Hinterzimmern, zu überleben versucht hatten. Leute
wie seine Eltern, die von anderen versteckt worden waren, bis
man sie doch abgeholt hatte, weil aufmerksame Nachbarn verräterische
Stimmen gehört oder Licht in Wohnungen gesehen
hatten, deren Bewohner gar nicht zu Hause waren. Leute wie
er, deren Leben davon abhing, dass andere ihres riskierten.
U-Boote, die unter der Stadt tauchten. Leo hätte sich nie selbst
so bezeichnet. In seinen Ohren hatte sich das immer völlig
unpassend angehört und jetzt auf einmal klang es wie eine
Auszeichnung.
»Und du bist aus Berlin?« Sein Gegenüber blickte ihn auf
einmal freundlich an.
»Ja«, antwortete Leo.
»Gut. Wir können Leute gebrauchen, die sich dort auskennen.«
Der blonde Offizier rief etwas nach draußen. Es dauerte
keine zwei Sekunden, dann stand der Soldat wieder in der Tür,
der Leo hergebracht hatte. Die Maschinenpistole hatte er sich
auf den Rücken gehängt. Es gab einen kurzen Wortwechsel,
dann salutierte der Soldat nachlässig und gab Leo einen Wink,
ihm zu folgen. Leo fragte sich, ob er noch etwas sagen sollte
oder nicht, aber ihm fiel einfach nichts ein, und er brachte
nicht mehr als ein schiefes Lächeln zustande. Der Offizier lächelte
zurück.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte er und
seine auf einmal weiche Stimme passte überhaupt nicht mehr
zu der ganzen militärischen Aufmachung. »Es ist vorbei.«
Dann wandte er sich wieder dem Kartentisch zu, griff nach
dem Rohrstock und ließ ihn über der Karte kreisen, als suchte
er die Stelle, an der er unterbrochen worden war.
Leo folgte dem Soldaten ins Freie und blieb kurz in der Morgensonne
stehen. Er schloss die Augen. Es ist vorbei, dachte
er. Ich bin wieder Leo Goldstein und darf wieder atmen. Und
obwohl er gelesen hatte, dass Menschen angeblich gar nichts
fühlten, wenn sie nach langer Gefangenschaft endlich frei
waren, spürte Leo, wie sich die Erleichterung in ihm langsam
und wohltuend ausbreitete. Es fühlte sich an, als würde durch
die Sonne auf seiner Haut etwas zum Glühen gebracht. Ein
neues Leben, dachte er. Doch das wievielte? War diese Kindheit
voller Schikanen ein eigenes Leben gewesen? Die achtzehn
Monate im Keller der Pianofabrik Bamberger & Sohn
mit seinen Eltern und ein paar anderen, war das noch einmal
ein Leben für sich gewesen? Und dann das knappe Jahr in
Wilhelms Wohnung in der Kurfürstenstraße, nachdem es das
Versteck nicht mehr gab und seine Eltern den Schergen in
die Hände gefallen waren? War das wenigstens in den ersten
vier Wochen noch ein eigenes Leben gewesen, solange Leo
gehofft hatte, dass sie es trotz allem irgendwie geschafft haben
könnten? Und nachdem Wilhelm ihm die schreckliche Wahrheit
gesagt hatte und er wusste, dass seine Hoffnung umsonst
gewesen war? War das ein Leben gewesen, das Warten auf das
Ende des Krieges, die Bombenangriffe, die Abgestumpftheit,
die auf ihre Weise noch schlimmer gewesen war als die Angst?
Die Stunden, in denen er fast gehofft hatte, dass sie auch ihn
endlich holten, damit es vorbei war? Bestand die Möglichkeit,
nach all dem schon wieder ein neues Leben anzufangen?
Leo öffnete die Augen. Neben einer Wasserpumpe auf dem
Hof stand ein Soldat mit freiem Oberkörper und klatschte
sich
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