Schattenspieler (German Edition)
ihrem
Wortschwall gerade hatte stehen lassen wollen, war Friedrichs
Mutter dazwischengegangen, hatte die Paschelt beiseitegenommen
und ihr wütend die Meinung gesagt. Seitdem hatte
die sich nicht mehr blicken lassen.
Trotz der lauten Feierei der Russen hatten die zwei Wochen,
die Leo nun schon in der Villa wohnte, ihm die Ruhe
gebracht, die er nach seiner strapaziösen Flucht unbedingt
gebraucht hatte. Friedrichs Mutter behandelte ihn wie einen
zweiten Sohn. Ihre Fürsorge war niemals anstrengend, weil sie
ein feines Gespür für die richtige Dosierung hatte. Vor allem
aber gab sie Leo nicht das Gefühl, ein schlechtes Gewissen
an ihm abzuarbeiten. Leo schlief lange, kümmerte sich mit
seinem neuen Freund Friedrich um alle möglichen Besorgungen
oder streifte einfach so ziellos durch die Nachbarschaft.
Überall brach der Frühling hervor.
Glücklicherweise wurde Sirinows Kompanie vorerst nicht
verlegt. Die Russen besorgten Leo alles, von dem sie annahmen,
dass er es sich wünschte, und einige der offensichtlich
überall zusammengeklauten Geschenke gab er ihnen gleich
wieder mit. Ansonsten erbaten sie sich vor allem Beratung von
ihm, wie sie bei den deutschen Mädchen landen konnten. Aber
auf diesem Gebiet gab es wenig Hoffnung, denn die meisten
dieser Mädchen nahmen Reißaus, wenn sie die Soldaten nur
aus der Ferne sahen.
Obwohl Leo schnell wieder zu Kräften kam, überfiel ihn
manchmal aus dem Nichts eine schreckliche Traurigkeit. Die
Erinnerungen an seine Eltern stürzten dann über ihm zusammen
wie eine Flutwelle. Und so kostbar ihm die beginnende
Freundschaft mit Friedrich in der kurzen Zeit geworden war –
wenn die Bilder der Vergangenheit in Leos Kopf plötzlich aufblühten
wie giftige Blumen, konnte und wollte er nicht reden.
Er war dankbar dafür, dass er sich an Dingen freuen konnte,
die andere, die eine ähnliche Geschichte hatten wie er, wahrscheinlich
gar nicht mehr wahrnahmen. Trotzdem sehnte er
sich in den finstersten Stunden seiner Traurigkeit beinahe in
sein Versteck zurück; er wollte wieder die Angst und die Entbehrungen
des Kellers spüren, wenn er dafür nur seine Eltern
zurückbekäme. Und irgendwie ahnte er, dass er ihnen gegenüber
ein schlechtes Gewissen hatte, weil es ihm nun so gut
ging, fast so als stünde ihm das nicht zu. In diesen Stunden
konnte er nur die Gesellschaft von Marlene ertragen, die ruhig
mit ihm redete oder einfach nur Klavier spielte und damit auf
fast magische Weise immer seine Stimmung traf. Sirinow hatte
schon recht gehabt: Sie sah ohne Augen mehr als andere mit.
Fast drei Wochen war es jetzt her, und Leo spürte, dass es
Zeit wurde, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und endlich
herauszufinden, was an jenem Abend geschehen war, als
Wilhelm plötzlich vom Dachboden verschwunden war. Er
hatte oft an die Kurfürstenstraße gedacht. War Wilhelm in
der Zwischenzeit wieder eingezogen? Konnte er wenigstens
kurz zurückkehren, um irgendetwas zu hinterlassen, das Leo
auf seine Spur brachte? Oder war das Haus am Ende bei den
Kämpfen um das Stadtzentrum vollständig zerstört worden?
Diese Fragen ließen ihm keine Ruhe mehr. Der Krieg war vorbei,
und er musste wissen, ob er wenigstens diesen Teil seiner
Vergangenheit in die Zukunft mitnehmen konnte.
Sirinow hatte ihnen Passierscheine ausgestellt, mit denen
man sich in der ganzen Stadt frei bewegen konnte. Friedrich
hatte nicht lange überredet werden müssen, sondern brannte
darauf, endlich rauszukommen aus diesem langweiligen Nestend,
wie er das Viertel inzwischen nannte. Weniger begeistert
war seine Mutter – erst recht, als Marlene sich nicht davon
abbringen lassen wollte, die beiden Jungen zu begleiten. Am
Ende ließ sie sie aber ziehen.
Mit gemischten Gefühlen stieg Leo in das klapprige Auto,
mit dem Wassilij vorgefahren war, um sie abzuholen. Er freute
sich, dass endlich etwas in Bewegung kam. Und er fürchtete,
enttäuscht zu werden, kaum dass seine Suche begonnen hatte.
Leo nahm sich vor, mit nichts zu rechnen. Aber die Hoffnung
ließ sich nicht unterdrücken und so blieb auch die Angst.
Sirinow hatte ihnen einen Militärjeep zugesagt, aber Wassilij
wollte unbedingt seine neueste Erwerbung vorführen: einen
schwarzen BMW, den er irgendwo in den Trümmern erbeutet
und wieder flottgemacht hatte. Das Auto mit der wuchtigen
Motorhaube und den elegant geschwungenen Kotflügeln
war einmal schick gewesen, aber davon war nicht mehr viel
zu sehen: Alle Scheiben waren herausgebrochen und die Karosserie
war völlig
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