Schattenspieler (German Edition)
die Menschen, schlug Leo freundschaftlich auf die
Schulter und zog ihn mit ins Getümmel. Im gleichen Augenblick
entdeckte Friedrich seine Mutter, die, er traute seinen
Augen kaum, mit einem vielleicht vierzigjährigen Offizier
sprach und dabei lachte. Der Anblick berührte ihn seltsam.
Als sie den Kopf hob, sah sie ihn auch. Sie machte eine kurze
Bemerkung zu dem Offizier und kam dann herüber. Sein irritiertes
Gesicht schien sie zu amüsieren, was ihn wiederum
noch mehr verunsicherte.
»Was ist denn hier los?«, fragte er.
»Sie feiern.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Sag bloß,
du weißt es noch nicht? Hitler hat sich in seinem Bunker erschossen
und General Weidling hat kapituliert. Der Krieg ist
zu Ende. Jedenfalls hier.«
Er starrte sie mit offenem Mund an, während drüben die
Ziehharmonika Tempo aufnahm. Ein paar Füße stampften im
Rhythmus. Chitler kaputt, dachte er. Diesmal also wirklich.
Friedrich wies mit dem Kopf zum Wohnzimmer. »Ist das
eine gute Idee?«, fragte er.
Sie zog ihn zur Treppe und war auf einmal ganz ernst.
»Wir können uns unsere Gäste nicht mehr aussuchen, nach
allem, was geschehen ist«, sagte sie. »Die Soldaten sind in Ordnung,
das sind alles Leute von Sirinow. Ein bisschen ungehobelt
vielleicht, aber sie benehmen sich einigermaßen.«
Sie beugte sich näher zu ihm hin. »Sie haben eine neue Kompanie
in die Gegend verlegt. Das ist ein ganz anderes Kaliber.
Seitdem passieren schlimme Dinge.«
»Ich weiß«, sagte er.
Sie blickte ihn eine Weile fragend an, dann sprach sie weiter:
»Ich habe den Frauen aus der Nachbarschaft angeboten,
dass sie erst mal zu uns kommen können. Sie hatten Angst,
dass … du weißt schon. In ein paar Stunden wird von den
Russen keiner mehr nüchtern sein.«
Friedrich nickte. »Die Paschelt ist auch da«, stellte er fest.
Georg Paschelt war der Kreisleiter, der vor ein paar Wochen
noch lauthals vom Endsieg geschwafelt hatte und jetzt
seit einigen Tagen verschwunden war. Und nun drückte sich
seine Frau im Salon mit angewidertem Gesicht zwischen den
Russen herum.
Seine Mutter blickte ihn streng an. »Friedrich, ich weiß,
dass die Paschelt auch da ist. Und ich kann sie genauso wenig
leiden wie du. Aber soll ich sie auf der Straße stehen lassen?«
»Sie hätte das mit uns auch gemacht.«
»Und das ist der Unterschied zwischen mir und der Paschelt.
Ich mache es nicht.«
Damit verschwand sie wieder im Wohnzimmer, wo die Feier
langsam in Fahrt kam. Etwa dreißig Leute waren dort inzwischen
versammelt. Ein dicker Soldat hatte eine der Nachbarinnen
gepackt und wirbelte sie in einem linkischen Tanz über
das Parkett. Sie lächelte säuerlich, ließ es sich aber gefallen.
Und dann entdeckte Friedrich Marlene. Er traute seinen
Augen kaum: Sie saß auf den Schultern des zahnlosen Russen,
der Leo vorhin mit sich gezogen hatte. Auch er hopste zur
Musik, die durch den inzwischen ziemlich verrauchten Raum
waberte, vermischt mit dem Stimmengewirr und dem rauen
Gesang einiger Soldaten, die den Musikanten begleiteten. Er
hielt sie an den Knien fest und ließ ab und zu los, um mehr
oder weniger im Takt in die Hände zu klatschen. Marlene
klatschte mit, während ihr Zopf wilde Kreisbewegungen in
der Luft beschrieb. Und sie lachte, wie Friedrich sie noch nie
hatte lachen sehen.
Eine Woche nach Berlin kapitulierte das, was von Großdeutschland
noch übrig war. Der Krieg war endgültig aus
und wieder feierten die Russen mit einem mehrtägigen Gelage
ihren Sieg. Erneut flüchteten sich die Frauen der Nachbarschaft
zu Friedrichs Mutter, um den Übergriffen zu entgehen.
Über die nachrückenden Einheiten erzählte man sich
die schlimmsten Geschichten: Überall stöberten sie die versteckten
Frauen auf, zerrten sie hervor und fielen über sie her.
Einige der Opfer hängten sich aus Verzweiflung auf. Andere
verkleideten sich als alte Frauen, bleichten sich das Gesicht
mit Puder oder schminkten sich Furunkel auf, weil die Soldaten
ansteckende Krankheiten fürchteten wie sonst nichts auf
der Welt. Und wieder andere traten die Flucht nach vorn an
und suchten sich Offiziere als Liebhaber, die ihnen das Fußvolk
vom Hals hielten.
In den gut zwei Wochen seit dem Einrücken der sowjetischen
Truppen schien es sich im ganzen Westend herumgesprochen
zu haben, dass die Villa Häck in der Ebereschenallee
9 ein Paradies der Geborgenheit war, das von den Nachbarn deshalb
bald ehrfurchtsvoll »die Burg« genannt wurde. Sirinow
selbst kam fast nur noch zum Schlafen dorthin.
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