Schattenspieler (German Edition)
niemand
auf die Weide stahl, um die Tiere vor lauter Hunger direkt vor
Ort zu schlachten. In Berlin hatte er Leute gesehen, die mitten
auf der Straße halb verweste Pferdekadaver zerteilten.
Das Fahrzeug hoppelte so heftig über die Schlaglöcher, dass
die harte Sitzfläche gegen Sommerbiers Steißbein hämmerte.
Rechts tauchten ein paar lang gestreckte Kasernenbauten auf,
dann kreuzte er eine Ausfallstraße, an deren Rand, halb im
Graben, ein zerschossener Panzer lag.
Nach weiteren fünf Minuten Rüttelei tauchte vor ihm die
Böschung eines wie mit dem Lineal gezogenen Deichs auf,
hoch genug, dass es aussah, als sei dahinter die Welt zu Ende.
Sommerbier gab Gas, der Motor heulte auf und der Jeep nahm
die Steigung mit Schwung. Erdklumpen prasselten von innen
gegen die Kotflügel, einige flogen im hohen Bogen hinter ihm
durch die Luft. Auf der Deichkrone trat Sommerbier hart auf
die Bremse und schaltete den Motor ab. Vor ihm glitzerte das
graublaue Band des Dortmund-Ems-Kanals.
Sommerbier stieg aus. Kleine Windböen kräuselten das
Wasser und warfen Muster. Er blickte sich um. Links von ihm
machte der Kanal einen sanften Knick nach Osten, rechts war
in der Ferne die große Schleusenanlage zu sehen. Kurz vor
der Einfahrt lag ein halb abgesoffener Kohlenkahn im Wasser.
Irgendwo krächzten ein paar Krähen. Kein Mensch war weit
und breit zu sehen.
Sommerbier kannte die Gegend. Als Kind hatte er hier mit
seinem Bruder geangelt und selbst gebastelte Segelboote aus
Holz fahren lassen. Später waren sie Wettrennen in Faltbooten
gefahren, obwohl das wegen des Frachtverkehrs eigentlich
verboten war. Die Boote hatten wie Klingen durch das Wasser
geschnitten.
Ein letztes Mal blickte er sich um, dann löste er die Handbremse
und stemmte sich gegen den Türrahmen. Der Jeep
setzte sich in Bewegung, die Karosserie knirschte. Nach wenigen
Metern begann die innere Böschung, und Sommerbier
spürte, wie die Schwerkraft ihm die Arbeit erleichterte. Der
Jeep nahm Fahrt auf, fuhr über den Pfad am Fuß des Deichs
und machte einen kleinen Satz über die auf den letzten Metern
steil abfallende Uferkante. Es klatschte laut, als er mit dem
Kühler tief ins Wasser eintauchte, gefolgt von einem hohlen
Gluckern. Der Jeep versank mit der Nase voran. Nach wenigen
Sekunden schwammen nur noch ein paar schäumende Blasen
an der Stelle. Darunter breitete sich eine bräunliche Wolke
aus aufgewirbeltem Schlamm aus. Kreisförmige Wellen zogen
träge zum anderen Ufer hinüber.
Sommerbier drehte sich um und stieg die Böschung hinunter.
Dann folgte er dem Feldweg stadteinwärts.
Die folgenden Tage verbrachte Leo in quälender Unruhe. Dass
Wilhelm noch am Leben war, machte ihn glücklich und ruhiger.
Aber warum meldete er sich nicht bei ihm? Wenn er in
Berlin war, warum ließ er sich dann nicht in der Ebereschenallee
blicken? Es half nichts, dass Friedrich und Marlene ihn
nach Kräften zu beruhigen versuchten. Leo konnte kaum still
sitzen. Er wanderte umher, hörte Marlene abwesend beim
Klavierspielen zu oder las, ohne sich lange konzentrieren zu
können.
Marlene hatte mit Bernhard enge Freundschaft geschlossen.
Sooft sie konnten, begleiteten Friedrich und er sie in den Zoo,
wo sie nach und nach die Bekanntschaft aller Tiere machte,
die den Krieg überlebt hatten. Bernhard legte ihr Schlangen
um den Hals und setzte ihr Papageien auf die Schulter. Aber
Leni war und blieb ihre Favoritin, und die Erzählungen über
das, was der kleine Orang-Utan alles anstellte, sorgten jeden
Abend am Esstisch für Erheiterung.
Friedrich und Leo machten regelmäßig Abstecher in die
Budapester Straße und versuchten ihr Glück bei Mackensen.
Der aber schien wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Klopfen
hallte durch die Wohnung und verklang, ohne dass hinter
der Tür Schritte oder irgendwelche anderen Lebenszeichen zu
hören waren. Auch sonst kamen sie bei ihren Nachforschungen
nicht weiter. Friedrich hatte ein Berliner Adressbuch aufgetrieben,
in dem keiner der Namen zu finden war, die auf
Wilhelms Liste standen. Sie fischten vollständig im Trüben.
In der Stadt kehrte ab Mitte Mai so etwas wie eine öffentliche
Ordnung ein. Plünderungen und Misshandlungen ebbten
ab, wohl auch, weil die Vorgesetzten dazu übergegangen
waren, alle Übergriffe drakonisch zu bestrafen. Die Frauen
tauchten aus ihren Verstecken auf. Die Soldaten wurden aus
den bisher besetzten Wohnungen abgezogen und in leer stehende
oder zwangsgeräumte Häuser von Parteigenossen einquartiert.
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