Schattenspieler (German Edition)
getan, was ich seit dreißig Jahren nicht
mehr getan habe: Ich habe gebetet. Ich dachte: Ein Gott, der jahrelang
so nachlässig mit den Schurken war, kann doch zumindest
nicht so kleinlich sein, mir ein unschuldiges Kindergebet für den
alten Leo als Blasphemie auszulegen. Und siehe da: Es hat geholfen.
Vielleicht sollte ich einige Dinge noch einmal überdenken.
Über Stockholm und London bin ich dann wieder in dieser
Wüste gelandet, die von Deutschland übrig ist. Wir fangen an, sie
zu bewässern. Aber vorher muss ein bisschen Unkraut gejätet
werden.
Dummerweise ist das Unkraut ja meistens noch da, wenn
die Kulturpflanzen schon eingegangen sind.
Ich befinde mich im britischen Hauptquartier in Münster und
weiß noch nicht, wann ich nach Berlin kommen kann. Mein
Besuch in der letzten Woche war inoffiziell und nicht ganz ungefährlich.
Deshalb habe ich mich schweren Herzens auf die
Nachricht an der Wand beschränkt.
Vielleicht hast Du gehört, dass die Stadt demnächst in vier
Sektoren geteilt wird. Meine britischen Freunde sind dabei, die
Formalitäten zu regeln. Ich hoffe, dass wir uns Ende Juni endlich
auf den Weg machen können. Diese Stadt ist langsam genug gestraft.
Wie gesagt, ich komme zu Dir, sobald ich kann.
Womit wir bei der Frage wären, die mich beschäftigt, seit ich
Deine Nachricht an der Wand gefunden habe. Es klingt für Dich
vielleicht etwas merkwürdig, aber: Was machst du in der Ebereschenallee
9? Gustav Häck, der Besitzer dieses Hauses, ist leider
kein unbeschriebenes Blatt. Falls er es ist, der Dir geholfen hat,
solltest Du bei aller Dankbarkeit auf der Hut sein. Er ist während
des Krieges in Vorgänge verwickelt gewesen, über die er uns und
der Welt noch ein paar Auskünfte schuldig ist.
Wie dem auch immer sein mag: Da Du in der letzten Zeit
offensichtlich alles richtig gemacht hast, will ich mir jetzt auch
keine Sorgen mehr machen. Das Wichtigste ist, dass es Dir gut
geht. Das Schicksal, dem Du Dein Leben verdankst, wird dich
von nun an auf Händen tragen.
Bis bald, mein Bester.
Dein Wilhelm
Dieser Brief blieb für mehrere Wochen das einzige Lebenszeichen
von Wilhelm. Doch weil er nicht mehr bangen, sondern
nur noch warten musste, war Leo weniger rastlos. Friedrich
und er weiteten ihre Streifzüge durch die Stadt aus. Sie versuchten
es noch ein paar Mal bei Mackensen, doch der blieb
verschollen. Einmal lief ihnen der Dicke aus dem Arbeitskommando
über den Weg und beteuerte, Mackensen schon
seit Wochen nicht mehr gesehen zu haben. Schließlich kam
Friedrich auf die Idee, sämtliche Berliner Kunstgalerien abzuklappern,
weil er hoffte, dass irgendjemand sie wenigstens auf
die Spur von Gerhard Schlimm brachte. Doch Leo gelang es,
ihn davon zu überzeugen, dass es besser war, Wilhelms Rückkehr
nach Berlin abzuwarten.
Und so verbrachten sie die meiste Zeit im Zoo oder am
Wannsee, manchmal begleitet von Soldaten aus Sirinows
Kompanie, denen es in Potsdam zu langweilig wurde und die
dann ganze Nachmittage damit verbrachten, nach den Mädchen
zu schielen und ihnen hinterherzupfeifen. Die Russen
hatten ihnen sogar Fahrräder besorgt, über deren Herkunft
Leo lieber nichts wissen wollte.
Die Spuren des Krieges lagen immer noch wie ein grauer
Schatten über der Stadt. Ausgebrannte Panzer und Autowracks
waren noch nicht aus den Straßen entfernt worden
und hier und da steckten noch die Holzkreuze für die Gefallenen
im Boden. Schauderhafte Szenen spielten sich ab, wenn
Umbettungskommandos die halb verwesten Körper wieder
ausgruben, in Pappsärge warfen und davonkarrten.
Die Trümmerberge schrumpften nur langsam. Zunächst
beschränkte man sich darauf, die Straßen und Bürgersteige
frei zu machen, doch in den am stärksten von den Bomben
betroffenen Bezirken glichen immer noch ganze Viertel einer
von schmalen Pfaden durchzogenen Kraterlandschaft, in der
Kinder mit viel zu großen Schuhen herumtollten, während
ihre Mütter Wassereimer in Wohnungen mit vernagelten
Fenstern schleppten. Salat wurde auf Balkonen angebaut, und
die Schlangen an den Pumpen wurden kürzer, je weiter die Reparaturarbeiten
an den Leitungen voranschritten. Und auch
der Strom kehrte zurück, zuerst stundenweise, dann dauerhaft.
Die erleuchteten Fenster in der Nacht kamen Leo nun
fast unheimlicher vor als die Dunkelheit in den Jahren davor.
Um die Lebensmittelversorgung war es für die meisten Berliner
immer noch schlecht bestellt, obwohl die Russen in langen
Kolonnen Kartoffeln und Getreide in die Stadt
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