Schattenspieler (German Edition)
schafften.
Einmal sah Leo, wie Kinder mit Bürsten das aus den Säcken
gerieselte Mehl von der Ladefläche eines Lastwagens schrubbten.
Und Friedrich fand eine Broschüre für Hausfrauen, in
der erklärt wurde, wie man Mehl aus Eicheln und Salat aus
Löwenzahn machte.
Wer Tauschware hatte, brauchte dagegen keinen Hunger zu
leiden. Zwielichtige Gestalten drückten sich auf den Märkten
herum und boten alles Mögliche an. Und die Polizei in ihren
umgefärbten Uniformen vom Reichsarbeitsdienst unternahm
kaum etwas dagegen.
Die Hakenkreuze verschwanden von den öffentlichen Gebäuden
und überlebensgroße Porträts von Stalin traten an ihre
Stelle. Bersarin war Mitte Juni bei einem Unfall ums Leben
gekommen und durch General Gorbatow ersetzt worden. Gerüchte
schwirrten durch die Luft: Einmal hieß es, die Westalliierten
kämen bald, um die Kontrolle in den ihnen zugewiesenen
Sektoren zu übernehmen, dann wieder wollten einige
wissen, dass schon der nächste Krieg vor der Tür stünde. Doch
der Krieg kam nicht.
Stattdessen erschien eines Tages Wilhelm.
Es war inzwischen Ende Juni. Leo saß im Wohnzimmer und
las, als es klingelte. Er hörte die Schritte von Friedrichs Mutter
auf der Treppe und wie sie die Tür öffnete. Nach einem kurzen
Wortwechsel kam sie ins Wohnzimmer, stand dort in ihrem
blauen Kleid, lachte Leo an und da ahnte er es schon.
Wilhelm stand in der Eingangshalle, trug eine britische
Offiziersuniform und blickte neugierig zum Treppenaufgang.
Von oben wehte das Allegro Vivace aus Schumanns Klavierkonzert
in A-Moll herab, feierlich und leichtfüßig zugleich.
Nichts hätte in diesem Augenblick besser gepasst. Leo brach
in Tränen aus, als er Wilhelm in die Arme fiel.
Die folgenden zwei Stunden redeten sie ohne Unterbrechung.
Einmal steckte Friedrich den Kopf zur Tür herein, zog
sich aber sofort wieder zurück.
Wilhelm erzählte von seiner Verhaftung und dem Verhör,
von seiner Freilassung und der Rückkehr in die Wohnung,
von seiner Abreise aus Berlin, von Stockholm und von London,
von seinen Aufgaben in Münster. Er war einem Stab zugeordnet,
der sich mit der Erfassung von im Krieg abhandengekommenen
Kunstgegenständen beschäftigte. Das war Leos
Stichwort.
Er berichtete von den Ereignissen seiner nächtlichen Flucht,
von Sirinow und seiner Kompanie, von der Rückkehr in die
Stadt, von Friedrich und Marlene, ihren Erlebnissen mit den
Russen und von den Besuchen im Zoo. Dann kam er auf
Mackensen und die Wolowski-Sammlung und schließlich auf
Sommerbier zu sprechen. Wilhelm sah ihn ungläubig an.
»Dieser Sommerbier ist uns bekannt«, sagte er.
»Er stand aber in keiner von deinen Listen«, sagte Leo.
»Ich habe noch ein paar weitere Listen im Kopf, mein Lieber.«
»Weißt du denn mehr über Sommerbier?«, fragte Leo. »Wir
kommen einfach nicht weiter.«
»Das hört sich ja an, als hättet ihr vor, uns Konkurrenz zu
machen.«
»Warum Konkurrenz? Wir können doch zusammenarbeiten.« Leo grinste frech.
»Ihr seid mir welche.« Wilhelm seufzte kurz auf. »Dürfte
ich deinen Friedrich mal kennenlernen?«
»Klar doch!«
Leo war in Hochstimmung, als er nach oben ging. Friedrich
saß in seinem Zimmer und schien nur darauf gewartet
zu haben, dass er geholt wurde, um dem legendären Wilhelm
endlich gegenüberzutreten.
Nachdem sie sich vorgestellt hatten, nahm Leo den Faden
wieder auf.
»Wir waren bei Sommerbier stehen geblieben.«
»Danke, Leo. Das war mir entfallen«, sagte Wilhelm sarkastisch.
»Und?«, fragte Leo nach. Er spürte, wie er vor Übermut fast
platzte. Er war stolz, dass Wilhelm in seiner Uniform und mit
seiner Lässigkeit auf Friedrich offenbar mächtigen Eindruck
machte. Und er war stolz gegenüber Wilhelm, dass sie in seiner
Abwesenheit nicht nur einen verschollenen Rembrandt
gefunden, sondern auch dem ERR auf die Spur gekommen
waren. Leo fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen.
»Na gut«, sagte Wilhelm. »Wir haben eine Akte über Sommerbier.
Er stammt übrigens aus Münster, wohnt da aber schon
seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Dort lebt noch ein Bruder
von ihm, aber ich glaube kaum, dass wir hier weiterkommen.
Sommerbier ist, soweit wir wissen, 1932 der NSDAP beigetreten.
Kurz darauf hat er in der Möbelfabrik Best angefangen
und sich dort bis 1939 zum Geschäftsführer hochgearbeitet.
In der Zwischenzeit ist er irgendwann zur SS gestoßen. Seit
1940 war er beim Sonderkommando Künsberg. Das war eine
dem Auswärtigen Amt unterstellte Truppe, die
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