Schattenspieler (German Edition)
der Ebereschenallee zogen die Gäste aus.
Sirinows Kompanie wurde nach Potsdam verlegt. Der Oberst
selbst arbeitete weiter für Bersarin und ließ ab und zu anfragen,
ob alles in Ordnung war. Er sorgte dafür, dass sie Lebensmittelkarten
mit der höchsten Ration bekamen, und schickte
manchmal Zigaretten vorbei, die gegen alles Mögliche eingetauscht
werden konnten. Im Garten legten sie ein Gemüsebeet
an und Leo zimmerte einen Kaninchenstall. Wenn man
es genau nahm, ging es kaum jemandem in Berlin so gut wie
ihnen. Und ohne dass viele Worte darum gemacht wurden,
war Leo ein Teil der Familie geworden.
Hier und da begann schon der Abbau der Trümmer. Überall
sah man Frauen mit Kopftüchern und verblichenen Schürzen
in Reihen auf den Schutthaufen stehen und Ziegel nach unten
reichen, wo diese von anderen Frauen in Empfang genommen,
mit Hämmern vom Mörtel befreit und in langen Stapeln
auf den Bürgersteigen aufgeschichtet wurden. In einigen
Straßen waren Schienen verlegt worden, auf denen Arbeiter
quietschende Loren hin- und herschoben, um die Steine zur
Weiterverarbeitung abzutransportieren.
Bald fuhren wieder vereinzelte Busse durch die Straßen,
kurz darauf erschien eine erste Zeitung. Und schließlich
nahm auch der Briefverkehr den Betrieb wieder auf. An einem
verregneten Dienstagmorgen klingelte tatsächlich wieder der
Postbote in der Ebereschenallee 9.
Leo war gerade damit beschäftigt, ein paar Bohnen einzusäen,
als Friedrichs Mutter in den Garten kam. Sie wedelte
aufgeregt mit einem Brief. Leos Herz schlug schneller, als sie
ihm den dünnen Umschlag überreichte. Er legte die Hacke
weg und wischte sich die Hände an der Hose ab.
Das Papier war grob und filzig. Statt einer Briefmarke saß
über der Adresse ein nachlässig aufgedruckter Stempel: 317
Military Government Detachment .
Mit zitternden Händen riss Leo den Umschlag auf und
fischte zwei Seiten heraus, eng bedeckt mit Wilhelms sauberer
Schrift.
Lieber Leo!
Ich habe vor einer Woche Deine Nachricht an der Wand gelesen,
und Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass
Du lebst, auch wenn ich ganz tief in mir immer die Hoffnung
hatte, dass Du diesem Wahnsinn entkommen würdest. Dein
Überleben ist einer der Gründe, warum man eben doch nicht an
der Wirklichkeit verzweifelt. Ich weiß nicht, ob Du noch einmal
zurückgekehrt bist und meine Antwort gelesen hast. Wie auch
immer – spätestens jetzt, wo Du diesen Brief in der Hand hältst,
kannst Du sicher sein: Der alte Wilhelm ist genauso wenig totzukriegen
wie Du.
Ich schulde Dir jede Menge Antworten und nicht alle kann
ich Dir in diesem Brief geben. Am meisten wird Dich wahrscheinlich
beschäftigt haben, warum ich an jenem Abend einfach
verschwunden bin. Diese Antwort ist noch eine der leichtesten:
Als ich wieder zu mir kam, lagst Du neben mir auf dem Dachboden,
bewusstlos, aber am Leben. Ich wollte Verbandszeug und
ein paar Gerätschaften aus der Wohnung holen, um Dich nach
unten abzuseilen. Und auf einmal standen die Kettenhunde auf
dem Treppenabsatz. Sie haben mich mitgenommen und zwei
Tage lang in einem Keller verhört. Es war knapp.
Als ich in die Wohnung zurückkam, warst Du nicht mehr
da. Die Vorstellung, dass sie Dich so kurz vor Schluss doch noch
geholt haben könnten, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Aber
irgendeine vorwitzige Stimme sagte mir, dass Du die Sache selbst
in die Hand genommen hast. Es war offensichtlich das Klügste,
was Du tun konntest.
Viel komplizierter ist die Antwort auf die Frage, was ich all die
Jahre über eigentlich gemacht habe. Ich bin Dir in diesem Punkt
immer ausgewichen. Es wäre für Dich lebensgefährlich gewesen,
etwas davon zu wissen, und Dein Leben war auch so schon gefährlich
genug. Nun, was ich getan habe, erfüllt in den Augen
derer, die sich bis vor Kurzem angemaßt haben, für Deutschland
zu sprechen, den Tatbestand des Landesverrats. Dabei sind sie es,
die Deutschland verraten haben, verraten und verkauft und der
Dummheit und dem Größenwahn geopfert. Die Rechnung dafür
werden sie bekommen. Sie wird gerade zusammengestellt.
Um es genauer zu sagen: Ich arbeite seit fünf Jahren für die Briten,
zusammen mit ein paar anderen in Berlin. Einige von ihnen
haben das teuer bezahlt. Ich dagegen bin billig davongekommen,
mit einem schwedischen Diplomatenpass und dem letzten Flugzeug,
das Tempelhof verlassen hat. Während diese hingerichtete
Stadt unter mir verschwand, dachte ich die ganze Zeit an Dich.
Und dann habe ich etwas
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