Schattenspur
die sie neben die Tür gestellt hatte, und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Etwas fiel mit einem leisen Plumps zu Boden. Sie hob das rote Stoffsäckchen auf und hängte es sich um den Hals. Augenblicklich fühlte sie sich wohler. Sicher und beschützt. Beim Tanzen wurde grundsätzlich kein Schmuck getragen, weil er störte und die Gefahr von Verletzungen barg. Gerade als Lehrerin musste sie auch in diesem Punkt mit gutem Beispiel v o rangehen. Außerdem durfte niemand diesen Beutel sehen, sonst verlor er seine Kraft. Deshalb legte sie ihn vor Beginn jeder Stunde notg e drungen ab. Sofort danach legte sie ihn wieder an, denn ohne diesen Schutz war sie a n greifbar.
Sie nahm ihre Tasche, ging zu den Umkleideräumen und unter die Dusche. Bevor sie das Wasser aufdrehte, steckte sie den Beutel in eine undurchsichtige Plastiktüte und legte ihn in die Seifenschale in Griffweite. Anschließend trocknete sie sich noch in der Duschkabine ab, hängte sich den Beutel wieder um und wickelte sich das Handtuch um die Brust, unter dem er den Blicken anderer entzogen war. Die Maßnahme erwies sich als unnötig, denn die Waschräume der Ballettschule waren um diese Zeit nicht mehr besetzt. Die regulären Unterrichtsstunden waren vorüber und nur noch der Hausmeister, das Reinigungspersonal und wahrscheinlich die Direktorin im Haus.
Kia zog sich an und ging zum Parkplatz. Als sie das Gebäude verlassen ha t te, fegte ein eisiger Hauch durch die warme Abendluft, der sie frösteln ließ und absolut nicht zur Jahreszeit passte. Erst recht passte er nicht zu der her r schenden Windstille. Sie legte die Hand auf die Brust, wo sie unter der Bluse den Ouanga-Beutel trug und murmelte ein Gebet. Das Gefühl von Kälte verschwand. Ihr Unbehagen blieb.
Sie stieg in ihren Wagen und fuhr in die East River Street, in der ihre Großmutter einen Laden für Gewürze, Tee und Kaffee besaß, über dem sie auch wohnte. In einem abgetrennten Nebenzimmer des Ladens bot sie z u sätzlich Lebensberatung an. Sie las den Leuten aus dem Fa-Orakel, aus der Hand oder auch mal aus den Karten. Bei Bedarf fertigte sie Talismane und Amulette wie Ouanga-Beutel als Schutzzauber an. Erstaunlicherweise stam m te ihre Kundschaft nicht nur aus dem afroamerikanischen Teil der Bevölk e rung, sondern auch aus nahezu allen anderen. Wahrscheinlich, weil ihre Vo r hersagen zutrafen und die Amulette und Talismane tatsächlich wirkten.
Als Kia nach Savannah gezogen war, hatte sie zunächst ebenfalls über dem Laden gewohnt, in einem bescheidenen Zimmer, das ihren Ansprüchen vol l kommen genügte. Sie war von Haiti Schlimmeres gewohnt. Nachdem sie sich einen Job an der Ballettschule gesucht und ein bisschen Geld gespart hatte, war sie in eine Wohnung in der Abercorn Street umgezogen. Was sie nicht daran hinderte, ihre Großmutter jeden Tag zu besuchen; schließlich war die East River Street nicht weit von der Abercorn entfernt.
Als sie den Laden erreichte, stand ihre Großmutter in der Tür und blickte über die Straße auf den Fluss dahinter. Ihr Gesicht hatte einen entrückten Ausdruck, als befände ihr Geist sich nicht in dieser Welt. Kia störte sie nicht, sondern setzte sich in den Schaukelstuhl neben der Tür auf der Straße und wartete geduldig, dass ihre Großmutter ihre Kommunikation mit dem Fluss beendete. Schließlich seufzte sie und wandte sich zu Kia um. Ihr Gesicht war ernst.
„Großmutter? Ist alles in Ordnung?“
Sie lächelte. „Ja, mein Kind. Ich denke schon. Es sind nur viele neue Leute in der Stadt.“
Eine Lüge, wie Kia deutlich spürte. Aber sie respektierte, dass ihre Gro ß mutter nicht über das reden wollte, was sie beunruhigte. Wenn sie dazu bereit war, würde sie die Sache von sich aus ansprechen.
Sie blickte Kia an und schüttelte missbilligend den Kopf. „Du hast b e stimmt wieder den ganzen Tag nichts gegessen. So dürr, wie du aussiehst, findest du nie einen Mann.“
Kia seufzte und verdrehte die Augen. „Großmutter, ich bin Tänzerin. Ich darf nicht dick sein. Und ja, ich habe brav gefrühstückt und ordentlich zu Mittag gegessen. Lediglich das Abendessen fehlt noch. Da ich wusste, dass du wie immer was für mich aufgehoben hast, habe ich darauf spekuliert, bei dir was Leckeres abstauben zu können.“ Sie drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange.
Die nahm sie in die Arme und lachte. „Ach, Kind! Was mir gehört, gehört doch auch dir.“ Sie strich Kia über den Kopf. „Soll ich dir nachher die Haare
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