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Schattenspur

Schattenspur

Titel: Schattenspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Laue
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auch noch ihre Großmutter verlieren. Sie wischte sich die Tränen ab und richtete sich auf.
    „Danke für den Trost. Aber wir wissen beide, dass das nicht sein kann, s o lange er noch lebt.“ Sie sah ihrer Großmutter in die Augen. „Was hast du vorhin gesehen, als ich gekommen bin? Was hat der Fluss dir gesagt?“
    Großmutter seufzte. „Er hat sein Lied verändert. Singt von vielen neuen Leuten in der Stadt. Nicht alle sind gut.“ Sie schüttelte den Kopf. „Niemals sind alle gut. Aber das ist normal.“
    Kia und ihre Großmutter entstammten einem alten Priestergeschlecht, das ursprünglich in der nördlichen Kongoregion beheimatet gewesen war, bis ihre Vorfahren als Sklaven nach Amerika verschleppt worden waren. Neben der Verehrung eines Schöpfergottes gehörte die Kommunikation mit den Naturgeistern, die in der Erde, in Bäumen oder Flüssen lebten, zu ihren Fähigkeiten und Pflichten. Trotz der Versuche der weißen Herren, ihren Vorfahren diesen Glauben und die damit verbundenen Praktiken auszutreiben und sogar zu vernichten, indem sie notfalls die Sklaven töteten, bei denen sie bemerkten, dass sie mit den Geistern sprachen, war ihnen das nicht vollständig gelungen. Obwohl sich ihr Blut im Laufe der fast dreihundert Jahre, die seit der Verschleppung ihrer Vorfahren vergangen waren, mit dem anderer Afrikaner und auch Weißer vermischt hatte und die religiösen Inhalte ihres Glaubens sich entsprechend verändert hatten, war diese Gabe immer wieder vererbt worden und trat in jeder zweiten Generation auf.
    Großmutter besaß diese Fähigkeit der innigen Naturverbundenheit ebenso wie Kia. Aber sie benutzte sie nicht. In der heutigen Zeit mitten in einer Großstadt war es nicht nötig, zu erfahren, wann der nächste Regen fiel oder wo die Okras am besten gedeihen würden. Das übernahmen die Farmindus t rie und die Meteorologen. Sie nützte also gar nichts. Stattdessen war sie die Ursache für ihr Unglück. Mehr oder weniger.
    „Wenn es nur das wäre, hätte es dich nicht so beunruhigt, Großmutter. Komm schon, ich bin erwachsen. Du kannst es mir ruhig sagen.“
    Großmutter seufzte. „Es geht etwas vor sich, das nicht gut ist. Noch ist es nur ein Hauch, aber der ist sehr, sehr kalt.“
    Kia erschauderte, als sie an den kalten Hauch dachte, den sie vor der Ba l lettschule gefühlt hatte. Großmutter fasste sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen.
    „Du hast ihn auch gespürt.“
    Kia nickte. „Vorhin, als ich die Ballettschule verlassen habe. Wie die Vo r ankündigung einer Eiszeit.“ Sie sah Großmutter forschend in die Augen. „Das ist noch nicht alles, nicht wahr?“
    Sie wiegte den Kopf hin und her. „Vielleicht nicht. Das weiß ich noch nicht, Kind. Aber ich finde es heraus.“ Sie lächelte. „Jetzt lass uns erst einmal essen. Und ich verspreche dir, dass ich nie wieder versuchen werde, dich mit einem netten jungen Mann zusammenzubringen.“
    „Das weiß ich sehr zu schätzen. Aber ganz ehrlich: Das glaube ich erst, wenn mindestens ein Monat vergangen ist, ohne dass du mich einem Mann vorstellst. Ich kenne dich doch.“
    Großmutter blickte sie liebevoll an. Der Blick sagte Kia mehr als alle Wo r te.
    Sie gingen in die Küche und widmeten sich dem Abendessen. Kia hing i h ren Gedanken nach, und auch Großmutter sagte nicht viel. Nach dem E s sen wusch Kia das Geschirr ab, während Großmutter sich in ihren Schauke l stuhl vor das Haus setzte und dem Fluss lauschte. Kia verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von ihr und fuhr nach Hause. Inzwischen war es zehn Uhr und schon dunkel.
    Sie parkte ihren Wagen auf dem Stellplatz gegenüber dem Haus, ging über die Straße und schloss die Haustür auf. Hinter der Wohnungstür von Mrs. Ferris, der sechzigjährigen Hausmeisterin, hörte sie wie jeden Abend die Stimme von deren Lieblingsprediger aus dem Fernseher, die verkündete, wie sehr Gott alle Menschen liebte. Mrs. Ferris antwortete auf jedes Halleluja aus dem Fernseher mit einem inbrünstigen Halleluja!
    Kia lächelte und stieg leise die Treppe zum ersten Stock hinauf, in dem ihre Wohnung lag. Als sie davor ankam, blieb sie abrupt stehen. Sie stieß ein en t setztes Wimmern aus. Jemand hatte die Tür mit roter Farbe beschmiert. Der Totenschädel eines stilisierten Gerippes grinste sie an, auf dessen Kopf ein Zylinder thronte. In der Hand hielt es einen Pot-de-tête, auf dem drei Kreuze und ein paar senkrechte Striche gemalt waren.
    Ihre Hand zuckte zu dem roten Beutel unter ihrer

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